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BERLINER MORGENPOST: Erst denken, dann reden - Leitartikel

Berlin (ots)

Wenn in der Vergangenheit auch nur halb so intensiv über die Integration von Migranten nachgedacht, diskutiert und dann auch noch gehandelt worden wäre wie in den vergangenen Tagen über die Thesen Thilo Sarrazins, dann wären wir weiter in diesem Land. Doch einmal mehr haben die Erregungsrituale über das Nachdenken obsiegt. Von Thilo Sarrazin bis hin zu den höchsten Repräsentanten des Staates gaben zu viele ihre Meinung zum Besten, ohne die Konsequenzen ihrer Worte vorab zu wägen. Was den Bundespräsidenten bewogen hat, in einem Interview der Bundesbank zu bescheinigen, dass sie im Fall Sarrazin "einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet", bleibt sein Geheimnis. Seit dieser zumindest indirekten Aufforderung, ihren Vorstandskollegen vor die Tür zu setzen, ist das Staatsoberhaupt kein neutraler Notar mehr. Der aber müsste er von Amts wegen sein. Hätte er vorher etwas länger nachgedacht, hätte er sich weder juristisch (falls Sarrazins klagt) noch politisch in Bedrängnis gebracht. Dann die Bundeskanzlerin. Ohne Not hat auch sie die Bundesbank unter massiven Handlungsdruck gesetzt, als sie ähnlich wie der Bundespräsident schon vor diesem möglichen Schaden durch Sarrazin im Ausland konstatierte. Damit hat sie leichtfertig die seit Jahrzehnten beschworene Unabhängigkeit der deutschen Notenbank von politischen Einflüssen aufs Spiel gesetzt. Hätte sie ein bisschen länger nachgedacht, hätte Frau Merkel auf die vermutlich richtige Idee kommen können, dass die Bundesbank auch ohne jeden Druck von außen froh gewesen sein könnte, endlich Gründe für die Abschiebung ihres von Anfang an ungewollten Kollegen gefunden zu haben. Dabei sind wir beim Nächsten, der besser hätte nachdenken sollen: Hätte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit nur auf die Einwände der Banker aus Frankfurt gehört, dann wäre Sarrazin gar nicht erst befördert worden. Denn dass der in der Frankfurter Top-Etage plötzlich zum Kreidefresser wird, dürfte gerade Wowereit schwerlich erwartet haben. Schließlich wäre gründliches Nachdenken auch Thilo Sarrazin zu wünschen gewesen. Wäre er vor seinen Verirrungen in Hirnforschung und Genetik noch einmal mit sich selbst ins Gericht gegangen, hätte er dieses Minenfeld gemieden. Das hätte alle Aufmerksamkeit auf sein zentrales Anliegen gelenkt. Wie recht er mit diesem hat, zeigt die Reaktion in den Meinungsumfragen. Doch Sarrazin hat insbesondere in seinen Auftritten nach der Buchveröffentlichung Streit und Provokationen überzogen. Die glaubwürdige Rolle eines souveränen Bundesbankers kann ihm ernsthaft keiner mehr abnehmen. Er hat sich selbst verabschiedet. Nachdem alle Beteiligten, statt nachzudenken, zu kurz gedacht haben, bleibt jetzt zumindest die Hoffnung, dass Integration nicht länger schöngeredet, sondern auf eklatante Fehlentwicklungen endlich konkret reagiert wird. Sarrazin hat die Defizite noch einmal klar definiert. Das bleibt - bei aller Kritik - sein Verdienst.

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