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3. Brief an einen Verstorbenen

3. Brief an einen Verstorbenen
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Lieber Reinhard Wosniak,

darf ich mal etwas Kritisches sagen? - Was mir auffiel, ist, dass Du als DDR-Bürger Deine Bücher, mit Ausnahme des Stilicho, der 1989 erschienen ist, nicht vor Mitte der 1990er Jahre geschrieben hast und kaum ein Systemkritiker der real existierenden DDR gewesen sein kannst. Ich kenne zwar Deine Liedtexte aus jenen Jahren vor der Wende nicht, in der Du angibst, Mitglied einer Musikband gewesen zu sein, und las, dass Du (in Deinem Brotberuf) bis 1990 in einem Ingenieurbüro für Landtechnik tätig warst, also quasi ein 'braves', nach außen hin unauffälliges bürgerliches Leben bis zur 'Übernahme' des sozialistischen Bauern- und Arbeiterstaats durch den Westen geführt hast. Das soll kein Vorwurf sein...

... und ich selbst hätte es höchstwahrscheinlich nicht anders gemacht, denn man muss ja auch kein Revoluzzer gewesen sein, um systemkritisch gewesen zu sein. Was hätte es gebracht, ständig verhört oder vielleicht sogar eingesperrt zu werden, denn die Verhältnisse hätten sich dadurch nicht geändert. Und wie es damals wirklich bei Euch und dann auch bei Dir zugegangen ist, kann ich als Wessi ohnehin nicht wissen. Zudem ist das Material, das mir über Dich vorliegt, zu dürftig, um es richtig beurteilen zu können.

Dennoch muss ich festhalten, dass lediglich Dein Erstling, der 'Stilicho', noch aus dem Jahr 1989 und damit aus der Vorwende-Ära stammt, und auch die darin enthaltene Systemskritik, wenn es eine solche überhaupt sein soll, ist zudem auch recht zahm. Du selbst äußerst Dich dazu in 'Die Nacht der Ameisen'. Auf S. 267 schreibst Du: " ... in der Kirche San Ambrosio, wo ich eine ganze Stunde vor dem Elfenbein-Sarkophag Stilichos saß und an einen dachte, der ein überlebtes Reich hatte retten wollen. (Das geht nicht, das hätte man schon damals für immer lernen sollen. Es wird aber bis heute versucht.)"

In dem, was Du in Klammern gesetzt hast, lässt sich eine vorsichtige Kritik am damaligen DDR-Staat, der nicht mehr zu retten war, erkennen. Alle übrigen Deiner Werke behandeln den ostdeutschen Staatsozialismus, sofern er darin thematisiert wird, aus der Rückblende und damit aus einer zeitlichen Distanz von mehreren Jahren, was in diesem Falle jedoch vorteilhaft ist, da man die Ereignisse mit etwas mehr Abstand oft klarer beurteilen kann, als steckte man mitten drin.

Für uns im Westen, die manches, was damals bei Euch passiert ist, bestenfalls aus dem Fernsehnachrichten kennen, ist das durchaus aufschlussreich. Aber Du berichtest ja nicht darüber, sondern analysierst, was damals geschehen ist, denn die Macht zerfiel ja nicht an einem Tag, und mit Deinem Zitat wurde mir erst richtig klar, was [und wie das] damals geschehen ist. Du schreibst dazu in 'Ameisen', S. 287 f: "Jeden Tag bröckelte die Macht und machte ihrerseits immer bockigere Vorschläge. Dabei spielte bei uns Regierten die Angst vor einer Anarchie, welche sonst jede irgendwie geregelte Zeit bestimmt, keine wirkliche Rolle. Jedes System im Untergang kommt irgendwann in dieses Trudeln, welches wiederum seine eigenen Regeln hat und sich nicht aufhalten lässt. Es verschleißt dabei seine Akteure. Die wirklich an der Macht Interessierten warten, bis es vorbei ist. Irgendwann kommt ihre Zeit - die Zeit nach der Zeit."

Deine Gedanken zu diesem Thema wirken auf mich abgeklärt, fast so, als hätten sie - wie bei einem Lehrbuch - etwas Allgemeingültiges. Und vielleicht zerfällt vor unseren Augen ja gerade auch ein demokratisches, rechtsstaatliches System wie das unserer Bundesrepublik Deutschland? Zumindest steckt unser Land aktuell in einer schweren Krise, und die ist nicht nur ökonomischer Art, sondern u.a. politisch-systemisch bedingt. Ob es zu einer Zersetzung unserer Demokratie am Ende wirklich kommt, weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht, ob dies nach den gleichen 'Gesetzen', wie Du sie beschreibst, vor sich geht. Klar ist jedoch, dass es inzwischen schlecht bestellt um unser Land. Schon die Kostellationen der Parteienlandschaft verheißen nichts Gutes. Denn wie wollen sich bei den aktuell existierenden Verhältnissen in der Parteienlandschaft stabile, regierungsfähige Mehrheiten bilden lassen. Selbst der besonnen denkende, namhafte Politologe Herfried Münkler sieht inzwischen unsere deutsche Demokratie bedroht, und die größte Gefahr ist laut Münkler die immer mehr um sich greifende Politikverdrossenheit in unserem Land, die gerade auch allen Extremen Tür und Tor öffnet.

Herzlichst Dein

Hubert Michelis, ehemaliger Franziskanermönch und Banker, nun freier Schriftsteller

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