"nd.DerTag": Kein Blankoscheck für sichere Herkunftsstaaten - Kommentar zur Entscheidung des EuGH zu beschleunigten Asylverfahren
Berlin (ots)
Wenn konservative und rechtsextreme Politiker ein Gerichtsurteil zu Migrationsfragen vehement kritisieren, weiß man mit 100-prozentiger Sicherheit, dass die Richter eine kluge und richtige Entscheidung getroffen haben. Zukünftig dürfen EU-Mitgliedstaaten nicht mehr willkürlich festlegen, welche Herkunftsstaaten für Migrant*innen als sicher gelten. Das hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden und damit die Rechte von Schutzsuchenden entscheidend gestärkt.
Zwar ist es den Mitgliedstaaten weiterhin erlaubt, bestimmte Länder als sogenannte sichere Herkunftsstaaten zu deklarieren, doch muss diese Einstufung transparent und damit durch Gerichte überprüfbar sein, mithin im konkreten Fall anfechtbar. Ein weiterer, ebenso wichtiger Aspekt: Die Einstufung als mutmaßlich "sicherer Herkunftsstaat" muss von den Staaten regelmäßig überprüft werden.
Auch spitzfindige Rechtfertigungen gehen nun nicht mehr ohne Weiteres durch: So ist die Abschiebung in bestimmte Landesteile, weil diese angeblich sicher seien, nicht rechtskonform, "wenn dieser Staat nicht seiner gesamten Bevölkerung einen ausreichenden Schutz bietet"; auch die Gefährdung "nur" spezifischer Personengruppen - zum Beispiel queere Menschen, religiöse Minderheiten etc. - schließt eine Kategorisierung als sicherer Herkunftsstaat aus.
Laut der kommunistischen Tageszeitung "Il Manifesto" bedeute dies, "dass die italienische Liste der sicheren Länder fast vollständig ungültig ist, da sie voller Ausschlüsse für bestimmte soziale Gruppen ist". Und wohl auch, dass generell die Festsetzung von Migranten aus solchen Ländern in Lagern, die eher Gefängnissen ähneln, während des Entscheidungsprozesses über ihren Asylantrag eine rechtswidrige Praxis darstellen könnte. "Die Verwendung der Haft als Instrument der Asylpolitik markiert einen epochalen Paradigmenwechsel", sagt Giuseppe Campesi von der Universität Bari, und habe "gravierende Auswirkungen auf die Grundrechte der Menschen".
Das Urteil ist zunächst ein persönlicher Erfolg für die beiden Migranten aus Bangladesch, die in Italien geklagt hatten, weil die rechtsextreme Regierung unter Führung von Giorgia Meloni sie in die Verwahrungslager nach Albanien verschifft hatte - angeblich weil Bangladesch sicher sei. Doch das Gesetz, auf dessen Grundlage die italienische Regierung eine Liste sicherer Herkunftsländer festgelegt hat, enthält keine Angaben über die Informationsquellen, auf die sich die Einschätzung der Sicherheitslage im konkreten Fall stützt. Das heißt wohl, dass auch das Gesetz damit hinfällig ist.
Somit steht das gesamte menschenrechtswidrige Konstrukt einer Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, wie es Italien mit Albanien versucht und andere EU-Staaten gern kopieren wollen, vor dem Scheitern. Gerechterweise, denn ein rechtsstaatliches Verfahren zur Festlegung des Schutzstatus von Geflüchteten kann nur innerhalb der europäischen Rechtsordnung erfolgen und nicht durch Auslagerung in Drittstaaten, die der Kontrolle durch den EuGH nicht unterworfen sind.
Mit einem billigen juristischen Winkelzug versuchen europäische Länder, allen voran Italien, das als "Problem" definierte Thema der Immigration wegzuschieben, aus den Augen und dem Sinn der nationalen Öffentlichkeit - und das für viel Geld. Aber das scheint in diesem Fall keine Rolle zu spielen. Laut einer Studie der Menschenrechtsorganisation ActionAid und der Universität Bari waren die Lager in Albanien 2024 effektiv nur fünf Tage in Betrieb, und das bei sehr hohen Kosten.
570.000 Euro habe die Präfektur Rom an die Verwaltungsbehörde Medihospes für fünf Tage tatsächlicher Tätigkeit gezahlt, heißt es in dem Bericht: "114.000 Euro pro Tag, um zwischen Mitte Oktober und Ende Dezember 2024 20 Personen festzuhalten, die dann alle innerhalb weniger Stunden freigelassen wurden."
Wie nicht anders zu erwarten, kritisierte die italienische Regierung das EuGH-Urteil. Es schränke den ohnehin begrenzten Handlungsspielraum der Regierungen weiter ein, sagte Ministerpräsidentin Meloni, die mit dem Thema Migrationsbekämpfung die Wahl gewonnen hatte und weiterhin permanent Stimmung macht. "Die Entscheidung des Gerichtshofs schwächt die Politik zur Bekämpfung der illegalen Masseneinwanderung und zum Schutz der nationalen Grenzen", urteilte sie und argumentierte gemäß einem wohlbekannten Muster rechter und konservativer Regierungen, wenn es um Migration geht: Gerichte mischten sich unerlaubterweise in politische Angelegenheiten ein, die Justiz - diesmal die europäische - beanspruche Zuständigkeiten, "die ihr nicht zustehen, während die Verantwortung bei der Politik liegt".
Soll in Konsequenz heißen: Politik müsse frei sein von Einschränkungen durch Gesetze, universale Rechtsprinzipien oder multilaterale Organisationen wie die EU, nur dann könne ein Staat uneingeschränkt handeln. Da ist er wieder, der Souveränismus, der Anspruch des Staates auf allumfassende Souveränität - ohne Rücksicht auf Verluste und Menschenrechte -, für den die deutsche Sprache noch keinen passenden Begriff bereithält, der aber in der AfD bereits einen lupenreinen Vertreter hat.
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