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Landeszeitung Lüneburg: "Ohne sozialen Schub geht es nicht" - Gregor Gysi fordert Reformen in Deutschland und Europa - "Wir müssen die EU retten"

Lüneburg (ots)

Rente erst mit 71 Jahren? Diese Forderung der "Wirtschaftsweisen" zur weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters hat für Kritik gesorgt. Gregor Gysi betont im Gespräch mit unserer Zeitung, dass "wir bei der Rente dringend eine Lösung brauchen". Denn das Renteneintrittsalter könne nicht immer weiter nach hinten verschoben werden. Der Linken-Politiker fordert, dass alle Bürger mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssten.

Herr Gysi, freuen Sie sich schon auf Rot-Rot-Grün in Berlin?

Gregor Gysi: Freuen wäre der völlig falsche Ausdruck. Aber ich halte das für historisch notwendig. Wenn wir die AfD überwinden wollen, muss die Union wieder eine konservative Partei werden, was sie heute nicht mehr richtig ist. Die SPD muss wieder sozialdemokratisch werden, was sie heute auch nicht mehr ist. Alle haben ihre historische Aufgabe. Und wir brauchen einen sozialen Schub in Deutschland - schon, damit die, die sich abgehängt fühlen, nicht länger meinen, sie müssten aus Protestgründen AfD wählen. Aber, mit Vergnügen hat das wenig zu tun.

Aber man kann doch sagen, dass die AfD die Linke als Protestpartei abgelöst hat?

Gysi: Wir waren in der Regierung in Mecklenburg-Vorpommern, sind es bald wieder in Berlin, sind in der Regierung in Brandenburg und stellen den Ministerpräsidenten in Thüringen. Dann giltst du nicht mehr als Protestpartei, auch wenn du noch so viele radikale soziale Forderungen stellst. Ich sage immer zu meinen Leuten: Die Zeit ist vorbei, wir müssen neue Wählerinnen und Wähler gewinnen. Aber wenn wir die AfD überwinden wollen, muss es wirklich einen sozialen Schub geben. Wir haben den größten Niedriglohnsektor in Europa, wir haben so viele prekär Beschäftigte - das geht nicht länger gut. Diese Menschen haben Angst, dass sich keiner um sie kümmert, dass sich niemand für sie interessiert. Sie wissen ganz genau: Von der CSU bis zur Linken ärgern sich alle über die Stimmen für die AfD am meisten. Schon deshalb wählen sie die AfD - damit wir uns ärgern und wir uns um sie kümmern.

Haben Sie Verständnis für CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, der scharf kritisiert hat, dass Herr Gabriel am rot-rot-grünen Planungstreffen teilgenommen hat?

Gysi: Nein, da habe ich null Verständnis. Das geht ihn auch gar nichts an. Er geht ja auch zu vielen Treffen, ohne dass sich Gabriel darüber aufregt. Er muss etwas Toleranz entwickeln.

Wie tolerant waren Sie denn gegenüber Wallonien?

Gysi: Ich bin tolerant, auch gegenüber Wallonien. Strukturell ist es spannend, dass ein so kleiner Teil der EU Ceta hätte verhindern können. Ich halte Ceta für einen Fehler. Aber meine Sorge ist noch eine ganz andere. Meine Sorge ist, dass die Mehrheiten in den verschiedenen Bevölkerungen der Mitgliedsländer immer stärker die EU ablehnen. Ich glaube, sie ist wirklich in Gefahr. Ich kritisiere die EU scharf, sage aber gleichzeitig, wir müssen sie retten. Ich sage, die EU ist unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, intransparent - was auch die Ceta- und TTIP-Verhandlungen gezeigt haben - und auch noch bürokratisch. Warum müssen wir die EU retten? Aus vier Gründen: Erstens haben wir eine Jugend, die europäisch aufgewachsen ist. Die meisten sprechen recht gut Englisch, haben im Ausland mal ein Praktikum gemacht oder studiert. Stellen Sie sich vor, wir kommen wieder zu den alten Nationalstaaten zurück - überall Grenzzäune, Pass vorzeigen, vielleicht noch Visum - das klingt für unsere Jugend so was von absurd, das können wir ihr nicht zumuten. Zweitens: Wenn wir die alten Nationalstaaten wiederbekommen, spielen wir ökonomisch im Verhältnis zu den USA und China keine Rolle mehr. Das Gleiche gilt drittens für den politischen Einfluss. Der vierte Grund ist der entscheidende: Es gab noch nie zwischen zwei Mitgliedsländern der EU einen Krieg, solche Kriege haben vorher unsere Geschichte geprägt.

Was sagen Sie denn den Schülern auf die Frage, ob sie in zehn Jahren noch EU-Mitbürger sind?

Gysi: Ich hoffe. Was ich dafür tun kann, werde ich tun. Dass Großbritannien die EU verlässt, ist gar nicht gut. Aber es ist noch keine Katastrophe. Aber wenn Frau Le Pen die Wahlen zur Präsidentschaft in Frankreich im März gewinnt und umsetzt, dass Frankreich die EU verlässt, ist die EU mausetot. Das darf nicht passieren. Ansonsten werde ich den Schülern sagen, dass sie die EU natürlich sozialer, demokratischer, ökologisch nachhaltiger und unbürokratischer machen müssen. Und dann werde ich ihnen sagen, dass sie endlich wieder anfangen sollen, etwas rebellischer zu werden, die Jugendzeit mehr zu genießen. Den Alten sage ich übrigens, ihr müsst lernen, das Alter zu genießen. Ich bin übrigens entschlossen, das zu tun.

Wie lange bleiben Sie denn noch in der Politik aktiv?

Gysi: Das kann ich Ihnen erklären: Ich muss Alterspräsident des Bundestages werden. Dann darf ich die Eröffnungsrede halten - und dann quatsche ich alle in Grund und Boden. Nein, im Ernst: Man muss den richtigen Zeitpunkt finden. Ich habe als Fraktionsvorsitzender aufgehört, weil ich im Unterschied zu anderen nicht erst gehen wollte, wenn ich tief im Keller bin.

Aber Bundespräsident wollen Sie nicht werden?

Gysi: Ich bin überhaupt kein präsidialer Typ. Langweilige Eröffnungsreden liegen mir nicht. Vor allem kenne ich die Zusammensetzung der Bundesversammlung, wir brauchen also nicht darüber zu diskutieren.

Obwohl - ein Rebell in dem Amt wäre vielleicht nicht schlecht. Gysi: Ja, das wäre gar nicht schlecht. Der Bundespräsident hat im Wesentlichen eine repräsentative Funktion - allerdings mit der Aufgabe, Einfluss auf den Zeitgeist zu nehmen. Wenn Sie etwas verändern wollen in der Gesellschaft, müssen Sie immer als Erstes den Zeitgeist erreichen. Wenn der sich ändert, ändert sich auch die Politik.

Wie sollen denn Schüler oder Studenten rebellischer werden?

Gysi: Sie müssen sich organisieren, sie müssen über ihren Schatten springen. Wenn es zum Beispiel ein gemeinsames Anliegen der linken und der konservativen Studentengruppen gibt, dann müssen sie es auch mal zusammen machen, zusammen für die Sache streiten. Ohne Organisation geht es nicht. Und dann muss man sich etwas einfallen lassen. Allein ein Protest bringt nichts, man muss die Medienaufmerksamkeit erreichen. Ein Beispiel: 300 Bäckermeister haben sich mal an mich gewandt und mir gesagt, sie hätten zehn politische Forderungen. Ich habe ihnen gesagt, zehn könne sich kein Politiker, kein Journalist merken, fünf reichen. Die Bäckermeister wollten dann einen Brief mit diesen Forderungen an die Kanzlerin schicken. Ich riet ihnen ab, denn dann gäbe es höchstens einen Eingangsvermerk vom Kanzleramt. Ich fragte sie, ob sie es organisieren könnten, dass alle Bäckereien an drei Tagen hintereinander geschlossen blieben. Denn dann gäbe es eine riesige mediale Aufmerksamkeit, und auch der Regierungssprecher müsste zu den Forderungen öffentlich Stellung nehmen. Die Bäckermeister sagten mir, dass könnten sie leider nicht schaffen. Ich sagte ihnen, genau das sei ihr Problem: Sie sind zu wenig organisiert. Ich wünschte mir, dass sich mehr Menschen organisieren, sich etwas einfallen lassen, wie man Medien erreicht - nicht mit Krawallen, sondern mit intelligenten Ideen. Dann würden sich bestimmte Dinge vielleicht schneller ändern.

Es gibt eine große Politikverdrossenheit im Land, aber noch immer Interesse an Politik?

Gysi: Es gibt keine Verdrossenheit gegenüber Politik, sondern gegenüber Politikerinnen und Politikern. Genau das nutzt die AfD so stark. Und genau deshalb sage ich, dass wir einen großen sozialen Schub in Deutschland brauchen.

Gehört auch eine echte Rentenreform zu diesem Schub?

Gysi: Bei der Rente brauchen wir dringend eine Lösung. Das Renteneintrittsalter kann nicht immer weiter nach hinten verschoben werden. Wir müssen der jungen Generation sagen: Wir machen es anders als bei uns. Wir führen ein, dass alle mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen - ohne Beitragsbemessungsgrenze. Den Rentenanstieg für die Spitzenverdiener flachen wir ab. Wenn wir diesen Weg Schritt für Schritt gingen, bräuchten wir nicht mehr über Altersarmut zu diskutieren.

Sollte man nicht doch umsteuern auf ein komplett steuerfinanziertes System?

Gysi: Ich finde das umlagefinanzierte System gut. Es müssen nur alle einzahlen. So ist zum Beispiel nicht einzusehen, dass auch wir Politiker nichts einzahlen, aber gleichzeitig über die Zukunft der Rente entscheiden. Das geht einfach nicht. Grundsätzlich muss in Zukunft wieder gelten, dass die gesetzliche Rente so hoch sein muss, dass man den Lebensstandard aufrechterhalten kann, den man sich im Erwerbsleben erarbeitet hat.

Das Interview führte

Werner Kolbe

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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