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Landeszeitung Lüneburg: Flüchtlingswelle ist nur ein Rinnsal
Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates: Absurd verengte Zuwanderungsdebatte

Lüneburg (ots)

Weltweit werden die Grenzen dichtgemacht. Ein Zaun trennt Erste und Dritte Welt zwischen den USA und Mexiko. Australien vertrat in den 1990er-Jahren - und jetzt auch wieder - die "Pazifische Lösung", also die Abdrängung von Flüchtlingsbooten auf hoher See. Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, meint: "Europa macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken."

Die UNO hat nach Lampedusa die Einwanderungspolitik der EU hart kritisiert. Fällt der EU nichts anderes ein als die Zugbrücke hochzuziehen?

Kai Weber: Es sieht so aus. Wir hoffen zwar, dass wir eine grundsätzliche Änderung erleben dürfen, also eine Politik, die die Augen nicht schließt, sondern die Not lindert. Aber es ist zu befürchten, dass die EU sich dazu nicht aufraffen kann. Seit längerem ist das Mittelmeer eines der bestbewachten Meere der Welt. Kaum eine Bewegung bleibt unbemerkt. Trotzdem ertranken und verhungerten Hunderte von Menschen unter den Augen von Frontex. Es gab zwar Strafverfahren, doch diese verlaufen im Sand, weil sich wegen der Informationspolitik der Agenten des Grenzregimes die Verantwortlichen letztendlich nicht identifizieren lassen. Das, was dort passiert, erfüllt den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.

Wer profitiert von der Abschottung der Grenzen?

Weber: Die EU verfolgt nicht das Ziel, Menschen umzubringen. Die EU hat ein Interesse daran, die Kontrolle über die Struktur der Zuwanderung zu behalten. Wir haben zum Beispiel in Deutschland 2012 eine Zuwanderung von 1,08 Millionen Menschen gehabt. Davon waren 77·000 Flüchtlinge. Das heißt, nur 7,1 Prozent der Zuwanderer waren Asylsuchende. Die Debatte wird allerdings auf eine absurde Weise auf eben diese Minderheit verengt. Das Gros der Zuwanderer sind ganz andere Gruppen. Das sind Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen erwünscht sind; das sind Menschen, die im Rahmen des Familiennachzugs einwandern. Die ungesteuerte Zuwanderung soll begrenzt, ja sogar bekämpft werden. Hier müssen wir zu einem Umdenken kommen, weil davon letztendlich nur die Schlepper profitieren. Es liegt auf der Hand, dass der Schnitt der Flüchtlinge nicht das Maß an Bildung und beruflichen Fertigkeiten mitbringt, das eine gezielte Auswahl unter den Zuwanderern erbringen würde. Wir sollten unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen wahren, indem wir die Fähigkeiten auch der Flüchtlinge frühzeitig fördern, müssen aber gleichzeitig akzeptieren, dass wir ihnen auch humanitär verpflichtet sind und manche dauerhaft Hilfe brauchen werden.

Müsste der alternde alte Kontinent nicht ein Interesse am Zuzug junger, hochmotivierter Menschen haben?

Weber: Sicher. Und das passiert auch massenhaft. So hat Deutschland 2012 um die 180·000 junge Menschen aus Polen aufgenommen. Das wurde nicht thematisiert, weil diese Zuwanderer uns nützen. Da fragt auch niemand, was dieser Abfluss von fähigen Menschen aus der polnischen Gesellschaft macht. Diese Zuwanderung wird begrüßt und also geräuschlos organisiert. Die sehr viel weniger Asylsuchenden werden eigentlich nur deswegen bemerkt, weil es bürokratische Formen gibt, diese Einwanderung sichtbar zu machen. Hier sind der Flaschenhals der Erstaufnahmeeinrichtungen zu nennen und Engpässe im Unterbringungsverfahren, die an neuralgischen Punkten Probleme entstehen lassen. Man könnte hier vieles erleichtern, wenn man die Tore ein wenig weiter öffnen würde und die bestehenden Gesetze liberaler handhaben würde - auch bei der Teilhabe von Flüchtlingen. Nach wie vor dürfen sie in den ersten vier Jahren nicht oder nur eingeschränkt arbeiten, erhalten keinen Zugang zu Integrations- und Sprachkursen. Diese Politik, Flüchtlinge zu isolieren, ist anachronistisch. Die Kosten einer nachholenden Integration nach mehrjährigem Aufenthalt sind entsprechend hoch. Ein afghanischer Arzt, der erst nach fünf Jahren unsere Sprache erlernen darf, wird nicht umstandslos auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben. Der kann auch nicht einfach zurückgehen und helfen, sein Land wieder aufzubauen, wie es so oft gefordert wird. Sowohl die Integration in Deutschland als auch die Re-Integration im Herkunftsland setzen voraus, dass die Menschen permanent lernen und nicht aus dem Prozess der Beschäftigung und des Qualifizierens herausgerissen werden.

Sind Ihre Hoffnungen auf eine Kehrtwende in der Asylpolitik durch den Regierungswechsel in Niedersachsen erfüllt worden?

Weber: Es hat einige positive, grundsätzliche Veränderungen gegeben, die wir begrüßen. Aber noch fehlt eine organisierte Politik des Willkommenheißens und der Integration der Flüchtlinge. Wir wünschen uns, dass die Kommunen entsprechende Konzepte entwickeln, wie es sie etwa für Aussiedler auch gibt. Das Land hat die Pauschalen, die den Kommunen gezahlt werden, zwar erhöht, aber sie decken die Kosten noch nicht. Allerdings haben die Kommunen die Chance, in die Menschen zu investieren: Jeder Flüchtling, der seine beruflichen Fähigkeiten nutzen und entwickeln darf, sich in die Gesellschaft einbringt und arbeitet, verwandelt sich von einem Hilfeempfänger zum gewinnbringenden Mitglied der Kommune. Einige Städte gehen hier voran: Bad Hersfeld etwa. Gute Ansätze für ein Unterbringungs- und Aufnahmekonzept entwickeln auch Osnabrück und Hannover. Dazu zählt auch, dass Flüchtlinge aus Sammelunterkünften in eigene Wohnungen ziehen dürfen. Das würde den Lagerkoller unterbinden.

Rechtspopulistische Bewegungen profitieren von der verbreiteten Angst vor einer gewaltigen Flüchtlingswelle. Ist dieses Gefühl gerechtfertigt?

Weber: Diese Welle ist eigentlich nur ein Rinnsal, gemessen an der Gesamtzuwanderung. Deutschland ist wie kein anderes europäisches Land auf Migration angewiesen. Ministerin von der Leyen hat es deshalb jüngst als "Glücksfall" bezeichnet, dass im Vorjahr 300·000 Menschen als Migrationsüberschuss in Deutschland geblieben sind. Rund einer Million Zuwanderern standen 700·000 Auswanderer gegenüber. Noch 2008 hatten wir eine Netto-Abwanderung von Menschen. Flüchtlingspolitik lässt sich wegen des humanitären Anspruchs nicht in Gänze unter Migrationsökonomie fassen. Europa sollte etwa denjenigen stärker helfen, die dem furchtbaren Bürgerkrieg in Syrien entkommen wollen.

Wie verhält sich der Anstieg der Flüchtlingszahlen gegenüber den Zahlen von Anfang der 90er-Jahre?

Weber: Wir erwarten für dieses Jahr rund 100·000 Flüchtlinge. Auf dem Höhepunkt 1992 hatten wir 438·000 Flüchtlinge. Es liegt auf der Hand, dass die Kommunen nicht jahrzehntelang Wohnraum leer stehen lassen konnten, obwohl sie wissen konnten, dass auch einmal wieder mehr Flüchtlinge kommen würden. Zudem hatte die alte Landesregierung signalisiert, alle Flüchtlinge in den landeseigenen Lagern lassen zu wollen. In der Folge kommt es nun in einigen Städten zu Engpässen, die nun kurzfristig organisiertes Verwaltungshandeln erfordern, aber keine grundsätzliche Überforderung darstellen.

Lösen Auffanglager und Einkaufsgutscheine Probleme oder schaffen sie welche?

Weber: Zig Untersuchungen belegen, dass das Leben im Lager eine eigenständige Lebensführung verhindert und zu Folgeschäden führt. Dass Menschen, die widrigsten Umständen trotzten und sich durchgekämpft haben, todunglücklich sind in Lagern, in denen das Arbeiten verboten wird und in denen ihnen sogar das Kochen abgenommen wird, ist klar. Dösen und Warten ist eine Strafe, das dequalifiziert die Menschen. Die Gutscheine waren seit jeher ein Mittel der Abschreckung und wir sind froh, dass wir dieses Kapitel so gut wie beendet haben. Nur Vechta hält noch an den Gutscheinen fest.

Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge der Welt schultern. Könnte es aber mehr Menschen von der Flucht abhalten, indem es in taumelnden Staaten präventive Sicherheitspolitik betreibt?

Weber: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die europäische Außen- und Wirtschaftspolitik nicht im Ergebnis dazu führt, dass die Lebensgrundlagen der Menschen in den Herkunftsländern zerstört werden, wie dies etwa für die industrielle Fischerei in großen Trawlern vor afrikanischen Küsten nachgewiesen werden kann. Verschärfend wirken die Wirtschaftsabkommen, mit denen die Europäische Union (EU) die rohstoffreichen Länder zwingt, ihre Handelsbedingungen zu liberalisieren und Exportsteuern abzuschaffen. Eine an der Erhaltung der Subsistenzwirtschaften und Verbesserung der Lebensbedingungen orientierte Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern, aus denen Flüchtlinge nach Europa fliehen, wäre insofern langfristig eine sinnvolle Orientierung. Die Menschen begeben sich auf die Flucht, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Oft bleibt ihnen keine andere Option, und der Bürgerkrieg in Syrien lässt sich auch nicht kurzfristig beenden. Aber es gibt Handlungsmöglichkeiten: Wer etwa sieht, wie Roma in Serbien leben, ohne Bildung, in Slums ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, der kann ihnen keinen Missbrauch vorwerfen, wenn sie hierher kommen. Natürlich muss man hier Perspektiven zur Teilhabe in der serbischen Gesellschaft eröffnen. Dies erfordert auch eine kulturelle Sensibilität im Umgang mit Menschen, die seit Jahrhunderten darin erprobt sind, sich in der Randständigkeit einzurichten. Um hier etwas bewirken zu können, bedarf es einer langfristigen Perspektive.

Gibt es die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem insbesondere vom Balkan?

Weber: Das ist von Innenminister Friedrich eine böswillige Formulierung des richtigen Sachverhalts, dass Menschen Angst haben, zu erfrieren, dass sich nicht wissen, wovon sie ihre Kinder ernähren sollen. Auch die meisten Roma wollen arbeiten. Und wenn sie es könnten, würden sie es tun. So haben wir unter den Gastarbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien eine Vielzahl von Roma, die sich längst eingefügt haben.

Europa war Jahrhunderte lang ein Kontinent, der Flüchtlinge exportierte. Hat die Wohlstandsinsel vergessen, dass Europäer einst überall Zuflucht fanden?

Weber: Die Erinnerung an Deutschland als Auswanderungsland lebt nicht mehr. Was aber noch virulent ist bei vielen Menschen, ist die Erfahrung der Vertreibung. Mindestens in jeder dritten Familie gibt es Menschen, die aus den deutschen Ostgebieten stammen. Sie haben die Erfahrung von feindseliger Ablehnung, Missgunst, Aggressivität bis hin zu Rassismus am eigenen Leibe erfahren. Viele von denen identifizieren sich heute mit den Betroffenen, haben deshalb Mitleid. Andere ziehen die Grenze umso strikter. Nach dem Motto: Wir gehören jetzt dazu und wollen mit den Neuen nicht verwechselt werden. Ähnliches erleben wir auch bei Migrantenfamilien, die ihren mühsam erarbeiteten Status durch die Asylbewerber gefährdet wähnen. Hier der eigenen Verantwortung gerecht zu werden, verlangt, sich der eigenen Geschichte bewusst zu sein.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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