Gegen dramatischen Insektenrückgang: Tagung betont die Notwendigkeit von Allianzen zwischen Landnutzern
Gegen dramatischen Insektenrückgang:
Tagung betont die Notwendigkeit von Allianzen zwischen Landnutzern
- Lösungswege für mehr und bessere Insektenförderung auf Landschaftsebene
- Blick auf Rolle von Landwirtschaft, Kommunen, Unternehmen und Bürgern
- EU LIFE-Projekt „Insektenfördernde Regionen“ hatte zur Europäischen Konferenz „More than just Flower Strips“ in Frankfurt am Main eingeladen
- Teilnehmende aus Wissenschaft, Wirtschaft, Landwirtschaft, Verwaltung und Naturschutz
Radolfzell, 27.05.2025; Angenommen, die Fahrzeugproduktion in Deutschland würde um 76 Prozent einbrechen. Der Aufschrei in Politik und Gesellschaft wäre nicht zu überhören. Dass die Biomasse von Fluginsekten in Deutschland über einen Zeitraum von 27 Jahren um 76 Prozent zurückgegangen ist, löst dagegen kaum öffentliche Reaktionen aus. Dabei hängen 75 Prozent der bedeutendsten Kulturpflanzenarten von der Bestäubung durch Insekten ab.
Wie kann dem Insektenverlust entgegengewirkt werden? Rund 80 Teilnehmende aus Wissenschaft, Wirtschaft, Landwirtschaft, Verwaltung und Naturschutz diskutierten Lösungsansätze bei der europäischen Konferenz „More than just Flower Strips“. Die Projektpartner des EU LIFE-Projekts „Insektenfördernde Regionen“ (IFR) hatten zu dem eintägigen fachlichen Austausch eingeladen.
Die Konferenzgäste sind sich der Dringlichkeit des Insektenschutzes bewusst. Und sie waren sich einig: Insektenschutz ist eine Aufgabe, die kein Akteur alleine bewältigen kann: „Für eine wirksame Insektenförderung benötigen wir mehr Fläche – wir brauchen mehr als nur Blühstreifen am Feldrand“, betonte Patrick Trötschler, Geschäftsführer der Bodensee-Stiftung, die das IFR-Projekt koordiniert hat. Folglich seien Allianzen zwischen allen Landnutzern nötig: zwischen Landwirtschaft - mit dem Rückhalt aus Lebensmittelbranche und Politik - Kommunen, Unternehmen und Naturschutz.
Bestäuber haben großen volkswirtschaftlichen Nutzen – und sind trotzdem stark gefährdet
Insekten sichern 35 Prozent des weltweiten Ertrags in der Nahrungsmittelproduktion. In Deutschland wird der volkswirtschaftliche Nutzen von Bestäubung auf ca. 3,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Gleichzeitig belegen verschiedene Studien einen alarmierenden Rückgang von Fluginsekten – sowohl der Anzahl der Arten wie auch der Individuen. So verwies Andreas Gumbert, Generaldirektion für Umwelt, Abteilung Nature Conservation und Biodiversity bei der Europäischen Kommission, in seiner Keynote auf den jüngsten Grassland butterfly index, wonach der Bestand von 15 typischen Grünland-Schmetterlingsarten um 50,4 Prozent zurückgegangen ist, wie Daten aus 18 EU-Mitgliedstaaten zeigen.
Insektenschwund hat vielfältige Ursachen – Insektenschutz fordert vielfältige Maßnahmen
Der Artenverlust geht nicht auf eine alleinige Ursache zurück, betonte Andreas Gumbert. Intensive Landwirtschaft mit Verarmung der Lebensräume, Düngemitteln und Pestiziden, Lichtverschmutzung, Klimawandel und invasive Arten tragen dazu bei. Dementsprechend vielseitig sind die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen – eben viel mehr als nur Blühstreifen. Andreas Gumbert stellte die europäische Perspektive für den Schutz von Bestäubern vor, unter anderem mit Einblicken in die EU-Initiative für Bestäuber (EU Pollinator Initiative). Deren Hauptziel ist, den Artenverlust bei für die Ökosysteme und die Ernährung wichtigen Bestäuberinsekten bis 2030 umzukehren. Sie basiert auf den drei Säulen: Verbesserung der Kenntnisse über den Rückgang der Bestäuber sowie seine Ursachen und Folgen, Verbesserung der Erhaltung von Bestäubern und Bekämpfung der Ursachen ihres Rückgangs sowie Mobilisierung der Gesellschaft und Förderung der strategischen Planung und der Zusammenarbeit auf allen Ebenen.
Projekte zeigen Bedingungen für gelungene Kooperation
Um den nachhaltigen Schutz von Insekten und Biodiversität über größere zusammenhängende Flächen hinweg zu erreichen, haben im knapp fünfjährigen Projekt „Insektenfördernde Regionen“ verschiedene Landnutzer zusammengearbeitet. Mehr als 1300 Personen wurden in Trainings geschult, darunter Vertreter der Kommunal- wie auch der Forstverwaltung sowie zahlreiche Landwirte und Beratungskräfte. In sieben insektenfördernden Regionen (Allgäu, Bodensee, Bliesgau, Hohenlohe, Nördlicher Oberrhein, Wendland sowie Vinschgau/Südtirol) wurden von mehr als 60 landwirtschaftlichen Demonstrationsbetrieben Maßnahmen umgesetzt.
Die Konferenz präsentierte mit KOOPERATIV der Universität Göttingen und FRAMEwork weitere Projekte, die Strategien zur Einbindung aller beteiligten Akteure, Vernetzungsansätze und Koordinierungsmaßnahmen erproben. Das Ergebnis: Es gibt keine Blaupause für die Etablierung einer insektenfördernden Region. Die regionalen Gegebenheiten, soziokulturelle Situationen und individuelles Engagement einzelner Akteure prägen die jeweilige Ausgestaltung.
Für den Weg zu einer insektenfreundlichen Landschaft hat das IFR-Projekt folgende Voraussetzungen identifiziert, die Patrick Trötschler vorstellte: „Hilfreich zu Beginn sind Pioniere, die es schon gut machen oder offen für neue Maßnahmen sind – das können Landwirte oder auch Kommunen sein. Wichtig für mehr Insektenförderung sind auch unterschiedliche Akteursgruppen, die idealerweise gemeinsam und gut miteinander abgestimmt aktiv werden. Dafür braucht es jemanden, der sich kümmert und die Koordination übernimmt. Für eine hohe Umsetzungsqualität in der Landschaft sind Kompetenz und Wissenstransfer in die Region und innerhalb der Region nötig. Und schließlich braucht es Geld für all das – idealerweise lassen sich öffentliche und private Gelder zu einem Investment in die regionale Biodiversität kombinieren.“
Die Konferenz beleuchtete die einzelnen Landnutzer und deren spezifische Möglichkeiten:
Die Rolle der Landwirtschaft
Als einer der Hauptverursacher für den Insektenrückgang gilt die intensive Landwirtschaft. Sie spielt für die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die Schaffung nachhaltiger Ökosysteme eine Schlüsselrolle. Das Interesse unter den Landwirten daran ist da, sind sie doch unmittelbar von der Leistung der Insekten abhängig: Die Vielfalt der Bestäuber beeinflusst Qualität und Quantität der landwirtschaftlichen Produktion. Beispiele dafür, wie die Umsetzung von Maßnahmen gelingen kann, konnten die Konferenzgäste bei Vorträgen von der Bodensee-Stiftung, dem ifab Institut für Agrarökologie und Biodiversität und von EU-LIFE PollinAction kennenlernen. Ausschlaggebend für den Erfolg: Die Maßnahmen müssen einfach, flexibel anpassbar, wissenschaftlich fundiert und fair honoriert sein. Begünstigt werden sie von Kompetenzerwerb durch Austausch auf Augenhöhe und Stolz der Landwirte auf das Erreichte durch Erfolgsmessung.
Die Rolle der Kommunen
Unterschätzt werde häufig die Rolle der Kommunen als Treiber von Biodiversitätsinitiativen. Nachhaltiger Naturschutz erfordere jedoch die enge Zusammenarbeit mit lokalen Entscheidern, Verwaltung und Organisationen vor Ort, so der Tenor in einer weiteren Tagungsteilgruppe. Best-Practice-Beispiele aus den Städten Heilbronn und Leipzig sowie vom Netzwerk Blühende Landschaft vermittelten den Teilnehmern einen Eindruck davon, wie Kommunen beispielsweise Kriterien bei der Pächterauswahl als Steuerungswerkzeuge nutzen oder Biodiversitätsförderung als gemeinschaftliche Aufgabe und Bildungsprogramm anbieten können. Als Voraussetzung für das Gelingen zeigte sich hierbei die Beteiligung verschiedener Interessengruppen an Entscheidungsprozessen.
Die Rolle der Bürgerinnen und Bürger
Nur wenigen Menschen ist ihre Abhängigkeit von der Natur und gesunden Ökosystemen bewusst. Auch wenn Bienen Sympathieträger sind, halte sich das Verantwortungsbewusstsein für den Schutz von Insekten in Grenzen, haben die Partner im IFR-Projekt erfahren. Wie Menschen sensibilisiert, mit Citizen Science als Bürgerwissenschaftler begeistert werden und als Botschafter wirken können, zeigten Beispiele von Thünen Institut, Universität Innsbruck und Leibniz Institut. Zwar werde der Aufwand der Anleitung der Ehrenamtlichen meist unterschätzt, er lohne sich aber. So werde nicht nur die Kompetenz in der Bevölkerung gefördert, auch komme die Wissenschaft an Daten, die sie sonst schwer erheben könnte.
Die Rolle von Lebensmittelbranche und Politik
Klar ist aber auch: Unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist Biodiversitätsförderung gerade für Landwirtinnen und Landwirte noch mit Ertragseinbußen, erhöhtem Arbeitsaufwand und damit höheren Kosten verbunden. Wie können Attraktivität und Effektivität der Finanzierung steigen? Beispiele für innovative Förder- und Finanzierungsmodelle und Anreize stellten das Öko-Institut, die Bodensee-Stiftung und die Brauerei Neumarkter Lammsbräu vor. Daraus folgende Forderungen: Die Kombination von öffentlicher und privater Förderung müsse ermöglicht werden, genauso wie der Lebensmittelhandel zielgerichtete und faire Anreize entwickeln müsse.
„Insektenschutz ist nicht sexy“
Verbraucherinnen und Verbraucher sind noch wenig bereit oder mangels Label nicht in der Lage, für biodiversitätsfreundlich produzierte Nahrungsmittel mehr zu zahlen, was durch fehlende Kenntnisse über Bedeutung und Situation der biologischen Vielfalt bedingt sein dürfte. Das zeige sich auch daran, wie schwer der Einsatz von Biodiversitätsschutz im Marketing der Lebensmittelbranche sei: „Insektenschutz ist nicht sexy“, fasste Patrick Trötschler pointiert zusammen. Kommunikation und Aufklärung seien notwendig, um auf breiter Ebene Unterstützung für Insektenförderung zu schaffen, für flächenwirksamen Insektenschutz auf Landschaftsebene.
Udo Gattenlöhner, Geschäftsführer des Mitveranstalters Global Nature Fund, machte den Wissensrückstand plastisch deutlich: Ein Großteil der Deutschen könne Automodelle unterscheiden, nur wenige aber kennen die bedeutendsten Libellenarten. Kein Wunder also, dass der Aufschrei angesichts des Insektenverlusts (noch) verhalten bleibe.
Publikation: Zur Konferenz ist als ein Ergebnis des IFR-Projekts der „Leitfaden für mehr und bessere Insektenförderung auf Landschaftsebene. Empfehlungen für Land- und Forstwirtschaft, Kommunen und Unternehmen“ erschienen. Er wird ergänzt durch einen umfangreichen Maßnahmenkatalog. Er steht auf der Projektwebsite auf Deutsch https://insect-responsible.org/leitfaden/ und auf Englisch https://insect-responsible.org/en/irsr_guidelines/ zum Download zur Verfügung.
Die Präsentationen der Konferenz stehen zum Download auf der Website des Projekts „Insektenfördernde Regionen“ bereit: IRSR European Conference - LIFE – Insektenfördernde Regionen
Das EU-LIFE-Projekt „Insektenfördernde Regionen“
Gefördert von der EU vereint das Projekt „LIFE Insektenfördernde Regionen“ unterschiedliche Partner für ein gemeinsames Ziel: den nachhaltigen Schutz von Insekten und Biodiversität von und mit verschiedenen Landnutzern über größere zusammenhängende Flächen hinweg. In sieben insektenfördernden Regionen wurden regionale Biodiversitäts-Aktions-Pläne erstellt.
In jeder Region wurden auf Demonstrationsbetrieben Maßnahmen für den Insektenschutz erprobt. Gleichzeitig wurden Landwirte, Berater und Lebensmittelunternehmen geschult und Verbraucher für das Thema sensibilisiert. Weitere Landwirte wurden motiviert, einen Aktionsplan zur Insektenförderung zu entwickeln und umzusetzen. Im Projekt spielt auch eine Rolle, attraktive Anreize für Landwirte wie auch die (finanzielle) Honorierung des Engagements durch öffentliche Programme und die Lebensmittelbranche zu erwirken. Die in diesem Projekt erarbeiteten Ansätze sind auf weitere Regionen übertragbar.
Die sieben insektenfördernden Regionen: Allgäu, Bliesgau, Bodensee, Hohenlohe, Nördlicher Oberrhein, Wendland sowie der Vinschgau in Südtirol.
Projektpartner: Bodensee-Stiftung (Koordination), Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall, Global Nature Fund, Nestlé Deutschland, Netzwerk Blühende Landschaft.
Über die Bodensee-Stiftung
Die Bodensee-Stiftung ist eine private Umwelt- und Naturschutzorganisation mit Sitz in Radolfzell am Bodensee. Die Stiftung setzt sich projektorientiert für mehr Nachhaltigkeit und Naturschutz in der internationalen Bodenseeregion und darüber hinaus ein. Gearbeitet wird in den vier Handlungsfeldern Energiewende, Landwirtschaft & Lebensmittel, Natur- & Gewässerschutz und Unternehmen & biologische Vielfalt mit unterschiedlichen Schwerpunkten. https://www.bodensee-stiftung.org
Über den Global Nature Fund
Der Global Nature Fund ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Radolfzell. Seit seiner Gründung im Jahr 1998 setzt sich der GNF weltweit für den Schutz von Natur und Umwelt ein. Im Mittelpunkt stehen Projekte zur Erhaltung der Biodiversität – speziell zum Seenschutz –, zur Förderung nachhaltiger Entwicklung und zur Verbesserung und nachhaltigen Ausrichtung der Lebensbedingungen der Menschen in den Projektregionen. https://www.globalnature.org
Bodensee-Stiftung:
Patrick Trötschler, Geschäftsführer und Projektleiter
E-Mail: p.troetschler@bodensee-stiftung.org
Telefon: +49-7732-9995-41
Global Nature Fund:
Jenja Kronenbitter, Projektmanagerin Unternehmen und Biologische Vielfalt
E-Mail: kronenbitter@globalnature.org
Telefon: +49 157 33085788