Rheinische Post

Rheinische Post: Lehren aus Winnenden Kommentar Von Sven Gösmann

12.03.2009 – 17:35

Düsseldorf (ots)

Amok, das Wort stammt aus dem Malaiischen,
meint das Töten im Zustand der Raserei. Insofern beschreibt der 
Begriff Amoklauf das Ereignis von Winnenden unzureichend. Der 
Todesschütze handelte kaltblütig, er war kein Berserker, sondern ein 
kalkuliert Tötender. Der erste, geplante Teil seiner Tat war 
Vorbildern aus Amerika und Erfurt nachempfunden, das Vorgehen vor dem
Computerbildschirm geübt  mit so genannten Spielen der Kategorie 
"Ego-shooter". Das ist kein zufälliger Genre-Titel. Es handelt sich 
um Computersimulationen der gezielten Tötung von Menschen durch den 
einsamen, zum Helden stilisierten Rächer vor dem Bildschirm. 
Irgendwann, wie in Winnenden, Erfurt oder Emsdetten, sind die 
hunderte Kugeln, die einer abfeuert, nicht mehr virtuell. Sie töten, 
sie schlagen eine Schneise psychischer Verwüstung in das Leben 
Tausender. Der Satz, mit dem wir die Folgen von Tod und Terror seit 
dem 11. September beschreiben, lautet nicht umsonst: Nichts wird mehr
so sein, wie es war. Dieses Mal gilt der Satz für Winnenden. Der 
depressive Junge mit der verheerend nachlässig verwahrten Waffe 
seines Vaters in der Hand hat eine ganze Gegend zur Geisel von Angst 
und Albträumen gemacht. Nun wird viel diskutiert  über die Ursache 
dieser Katastrophe, auch über gesetzliche Maßnahmen, die eine solche 
Tat verhindern helfen könnten. Das Waffenrecht wurde bereits 
verschärft, die Polizeitaktik verbessert. Trotzdem gibt es 
Ansatzpunkte. Warum werden die Computerprogramme, die derlei 
psychische Störungen verstärken, nicht geächtet? Natürlich finden 
Interessierte Mittel und Wege, an sie zu gelangen, aber ein Verbot 
wäre ein Signal. Warum erlauben es Behörden, dass Eltern versagen und
ihren therapiebedürftigen Jungen nicht weiter behandeln lassen? Warum
gibt es kaum unangemeldete Besuche der Polizei in waffenstarrenden 
Haushalten wie im Elternhaus des Todesschützen? Warum achten wir 
nicht mehr auf die Anzeichen der Wohlstandsverwahrlosung, die auch im
aktuellen Fall eine Rolle spielen? Die vermeintlich Unauffälligen 
haben in unserer von Auffälligkeiten faszinierten Gesellschaft leider
kaum eine Chance auf Beachtung. Dazu kommt ein über diesen Fall 
hinausgehendes Phänomen: Die Hemmschwelle gegenüber der Anwendung von
Gewalt in unserer Gesellschaft sinkt stetig. Mitschüler, Lehrer oder 
wie jeden Samstag in der Düsseldorfer Altstadt zu beobachten  
Polizeibeamte sehen sich kaum noch zügelbarer Aggression gerade 
Jugendlicher ausgesetzt. Der Verlust von Werten und Respekt vor 
Autoritäten, auch die schwindende Furcht vor Strafe in einer alles 
verstehenden und erklärenden Gesellschaft finden in Amoktaten einen 
furchtbaren Kulminationspunkt  dahinter steht aber auch eine 
allgegenwärtige Verrohung. Es bleibt dabei: Wir mögen uns ohnmächtig 
fühlen nach dieser Tat. Wir sind es nicht.

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