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Berliner Morgenpost: Eine ungeliebte Reform, die besser ist als ihr Ruf - Leitartikel

Berlin (ots)

Bei Erfolgen herrscht an Vätern normalerweise kein
Mangel. In der Regel möchte dann jeder selbst die bahnbrechende Idee 
gehabt haben und auch den Mut, diese dem Praxistest zu unterziehen. 
Doch im Falle des "Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am 
Arbeitsmarkt" - den meisten bekannt unter dem Kürzel Hartz IV - ist 
alles anders. Obwohl von Ökonomen fast einhellig als entscheidender 
Schritt zur Stärkung des Arbeitsmarktes gefeiert, finden sich aus 
Politik und Gesellschaft merkwürdigerweise auch zum fünften 
Geburtstag der Reform kaum Gratulanten.
Im Gegenteil: Hartz IV steht in der Öffentlichkeit noch immer meist 
nur als Chiffre für sozialen Abstieg und Massenarmut, für Löhne unter
dem Existenzminimum und soziale Ungerechtigkeit. Und die Politik hat 
schon zu Zeiten der großen Koalition, als die von weiten Teilen der 
Bevölkerung als schmerzhaft empfundene Reform ihre ersten Früchte 
zeigte, nie wirklich Flagge gezeigt. Die Union nicht, weil Hartz IV 
das Werk Gerhard Schröders war. Die SPD nicht, weil sie mit der 
Agenda 2010 ihr politisches Herz verkauft zu haben glaubte und die 
Bindung zu vielen ihrer traditionellen Milieus verloren hat. Statt 
mutig zu einer Entscheidung zu stehen, die entscheidend dazu 
beigetragen hat, die Arbeitslosenzahl von über fünf auf zeitweise 
unter drei Millionen zu verringern, wurde taktiert und lamentiert.
All dies hat das Bild befördert, dass Hartz IV in erster Linie Armut 
per Gesetz geschaffen habe. Dabei stehen Millionen früherer 
Sozialhilfeempfänger heute besser da als vor der Reform. Trotz Hartz 
IV gibt es kein anderes Land, dass sich ein so großzügiges Fürsorge- 
und Unterstützungssystem leistet wie Deutschland. Vor allem aber 
haben Millionen von Menschen wieder einen Job gefunden - den 
wirksamsten Schutz gegen Armut. Auch wenn viele davon nur zu 
Niedriglöhnen angestellt werden. Aber was wäre die Alternative? Jeder
zweite Hartz-IV-Empfänger hat keinen Beruf gelernt - ihm bliebe sonst
oft nur die dauerhafte Arbeitslosigkeit oder das Ausweichen in die 
Schwarzarbeit.
Im Bewusstsein der Bevölkerung kommt all dies aber kaum zur Geltung. 
Hier ist nur die Forderung "Jeder Job ist zumutbar" haften geblieben 
und sorgt auch bei Menschen, die selbst noch gar nicht in Berührung 
gekommen sind mit Hartz IV, für diffuse Abstiegsängste.
Genau hier aber liegt der Kern für die verbreitete Ablehnung dieser 
Reform. Als die Politik vor fünf Jahren die Agenda 2010 in Kraft 
setzte, war dies nichts anderes als das endgültige Eingeständnis, 
dass das alte Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik, das zur Not bis 
zur Rente umfassend alimentierte, nicht mehr finanzierbar war. 
Seither gilt: Jeder muss zuerst für sich selbst sorgen, erst dann 
springt der Staat ein. Diese Forderung mag unbequem sein und manchmal
auch Furcht einflößend. Aber sie ist auch die Grundlage dafür, dass 
den wirklich Bedürftigen weiterhin umfassend geholfen werden kann. 
Und dies auch in wirtschaftlichen schweren Zeiten, wie sie uns 
zweifellos in den kommenden Monaten noch bevorstehen.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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