Folge dem Blick der Taube, PI Nr. 62/2025
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Folge dem Blick der Taube
Wir Menschen folgen intuitiv der Blickrichtung der anderen. Doch wie sieht das bei Tauben aus? Welche Rolle spielt dabei ihr Gruppenverhalten – und was verrät uns dies letztlich über die Tiere? Ein Verhaltensexperiment des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten der Universität Konstanz in Kooperation mit der Kyoto University.
Ein Blick hat etwas Magnetisches: Wenn nur genügend Menschen in dieselbe Richtung schauen, werden andere ihrem Blick folgen. Doch gilt das auch für Tiere wie Tauben – und spielt es eine Rolle für den Effekt, ob nur eine oder viele Tauben schauen? Ein Team von Tierverhaltensforscher*innen um Fumihiro Kano und Mathilde Delacoux von der Universität Konstanz nahm das Gruppenverhalten von Tauben in den Blick. Warum es wichtig ist, zu wissen, wohin die Tauben starren.
Gemeinsam starren
Das Verfolgen der Blickrichtung spielt in der Verhaltensforschung eine besondere Rolle. „Viele Tiere einschließlich dem Menschen neigen dazu, dort hinzuschauen, wohin andere schauen; wir nennen das „gaze following“. Das ist eine einfache, aber wichtige Art und Weise, um Aufmerksamkeit zu teilen und von anderen zu lernen“, schildert Mathilde Delacoux. Frei nach der Formel: Ich denke, dass du denkst, dass dort etwas Interessantes ist – also sollte ich ebenfalls dorthin schauen.
Der US-amerikanische Sozialbiologe Stanley Milgram erforschte die Blick-Verfolgung in einem Verhaltensexperiment, das Berühmtheit erlangte und seitdem zigfach kopiert wurde, vor allem in Flashmobs: Eine Gruppe Menschen starrt auf das Dach eines Hauses. Ab einer gewissen Größe der Gruppe werden Passant*innen stehenbleiben und in dieselbe Richtung schauen. Milgram schlussfolgerte, dass eine gewisse Mindestzahl an Personen nötig ist, damit der Effekt eintritt. Er nannte dies einen „Quorum“-Effekt.
Doch wie sieht es in der Tierwelt aus? Folgen auch Tiere den Blickrichtungen ihrer Artgenossen? Gibt es bei ihnen einen Quorum-Effekt? Und verrät uns ihr „Blick für den Blick“ wirklich etwas über ihre kognitiven Leistungen?
Dass Tiere dem Blick ihrer Artgenossen folgen, wurde bereits bei verschiedenen Vogelarten wie Raben, Staren, Gänsen, Pinguinen, Nandus oder auch Emus nachgewiesen. Diese Verhaltensexperimente fanden bisher jedoch allesamt in Zweier-Konstellationen statt: ein Vogel schaut, der andere folgt seinem Blick. Welche Rolle spielt dabei aber das Gruppenverhalten? Ist die Gruppengröße vielleicht sogar der entscheidende Faktor, so wie Milgram es beim Menschen zeigte? Dieser Frage gingen Delacoux und Kano anhand von Tauben nach. „Tauben sind für diesen Zweck gut geeignet, da sie typischerweise relativ große Gruppen bilden, in denen die einzelnen Tiere gewöhnlich von mehreren Artgenossen umgeben sind. In solchen Schwärmen sollte es für die Tiere von Vorteil sein, dem Blick der andern zu folgen, zum Beispiel bei der Futtersuche oder zur Wachsamkeit“, erläutert Delacoux.
In der High-Tech-Scheune
In einer speziell präparierten High-Tech-Scheune in Möggingen am Bodensee platzierten sie die Tauben gegenüber in zwei Gruppen. Der einen Gruppe wurde ein bewegliches Objekt gezeigt, das ihre Aufmerksamkeit erregte – doch der anderen Gruppe blieb das Objekt verborgen: Es lag außerhalb ihres Sichtfelds, hinter einer Abdeckung versteckt. Nun stellte sich die Frage: Folgt die zweite Gruppe der Blickrichtung ihrer Artgenossen? Wie zuverlässig tritt dieser Effekt ein? Und spielt die Anzahl der Tiere, die in dieselbe Richtung starren, eine Rolle?
Die Tauben waren währenddessen rundum von einem Kamerasystem umgeben, das die Bewegungen ihres Kopfes aus unterschiedlichen Perspektiven in Echtzeit erfasste. Auf diese Weise konnten die Forschenden millisekundengenau rekonstruieren, wann welche Taube wohin schaute – und wie sie auf die Blicke der anderen reagierte. Delacoux und Kano wiederholten das Experiment in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen: Mal sah nur eine Taube das versteckte Objekt, mal drei oder fünf oder sehr viele von ihnen.
Das Experiment bestätigte die Vermutung der Forschenden: Die Tauben folgten in der Tat dem Blick ihrer Artgenossen. Der Effekt war aber weniger ausgeprägt als bei anderen Vogelarten, bei denen die Blickverfolgung nachgewiesen wurde. Auch zeigte sich, dass die Gruppenanzahl in der Tat eine Rolle spielt. Starrt nur eine Taube in eine Richtung, so folgen andere nur selten ihrem Blick. Sobald aber mehrere Tauben in dieselbe Richtung schauen, schließen sich die meisten anderen ihrer Blickrichtung an.
Anders als bei Stanley Milgrams Experiment gab es jedoch keine Anzeichen für einen Quorum-Effekt. Sprich: Die Anzahl der Tauben spielte zwar durchaus eine Rolle, es gab aber keine bestimmte Mindestanzahl an Tieren, damit der Effekt eintritt. Es ließ sich vielmehr eine lineare Steigerung beobachten: Je mehr Tauben in dieselbe Richtung starrten, desto mehr schlossen sich ihnen an – ohne, dass es eine Mindestschwelle gegeben hätte.
In der Gedankenwelt der Taube
Was verrät uns das Experiment nun über die kognitiven Fähigkeiten von Tauben? Ist das Experiment ein Anzeichen, dass sich Tauben in die Gedankenwelt ihres Gegenübers hineinversetzen können? Mathilde Delacoux ist hier mit Schlussfolgerungen vorsichtig: „Ich würde nicht annehmen, dass ihr Verhalten mehr bedeutet, als einfach nur der Blickrichtung zu folgen.“ Delacoux geht von einer eher reflexhaften Reaktion der Tauben aus. Anzeichen von tieferen kognitiven Fähigkeiten – zum Beispiel die eigene Position zu wechseln, um das verborgene Objekt besser sehen zu können – waren nicht erkennbar.
Die Ergebnisse sind aber sehr wohl aufschlussreich über das Gruppenverhalten von Tauben. „Wir wissen nun, dass Tauben nicht einfach nur mechanisch die Blickrichtung ihrer Artgenossen kopieren. Sie richten ihr Verhalten vielmehr danach aus, wie viele andere ihrer Artgenossen einen Hinweis mit ihrem Blick geben“, erläutert Fumihiro Kano und unterstreicht: „Sie reagieren auf ein kollektives Signal.“ Die Forschungsergebnisse lassen uns also sehr wohl einen Blick in den Kopf einer Taube werfen, und sie zeigen uns ein Sozialverhalten, das sich an der Gruppe orientiert. Ein einzelner Blick mag unbeachtet bleiben, doch viele Blicke sorgen für Aufmerksamkeit – nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tauben. Wie Kano es letztlich ausdrückt: „Viele Tiere entwickelten sich in Gruppen. Um richtig zu verstehen, wie sie denken und miteinander kommunizieren, müssen wir sie auch als Gruppen erforschen.“
Faktenübersicht:
- Originalpublikation: Mathilde Delacoux, Akihiro Itahara, Fumihiro Kano, Gaze following in pigeons increases with the number of demonstrators, iScience, Volume 28, Issue 7, 2025, DOI: https://doi.org/10.1016/j.isci.2025.112857. Link: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2589004225011186
- Forschungsprojekt des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten der Universität Konstanz in Kooperation mit der Kyoto University.
Hinweis an die Redaktionen:
Ein Bild steht zum Download bereit:
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Bildunterschrift: Versuchsaufbau in der Hightech-Scheune: Die Tauben werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Nur eine Gruppe („Demonstrators“) sieht das bewegliche Objekt. Folgt die zweite Gruppe („Observers“) nun dem Blick ihrer Artgenossen?
Copyright: Mathilde Delacoux, published by Elsevier Inc.
Kontakt: Universität Konstanz Kommunikation und Marketing E-Mail: kum@uni-konstanz.de
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