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WAZ: Kommentar zu: Zum Ende der Kennenlern-Tour: Kopf statt Bauch – über die neue Außenpolitik - Von Ulrich Reitz

16.01.2006 – 20:11

Essen (ots)

In Washington ging es nicht um Anbiederung und in
Russland nicht um Isolation. Wenn die Berliner Außenpolitik eine
Überschrift hat, dann diese: Balance.
Wo Schröder sich anbiederte, da sucht Merkel die Distanz. Wo
Schröder sich isolierte, betreibt seine Nachfolgerin die Annäherung.
Insgesamt hat – in einem erstaunlichen Tempo, eine Korrektur der
deutschen Außenpolitik stattgefunden. Eine Neujustierung, die ganz
offensichtlich auch die SPD für notwendig hält, denn Einwände dagegen
hat sie nicht verlauten lassen.
Es geht um eine außenpolitische Normalisierung, eine Re-
Rationalisierung. Selbstredend verfolgt Außenpolitik zugleich stets
innenpolitische Ziele, nur stehen diese bei der neuen Regierung nicht
mehr im Vordergrund. Die Außenpolitik ist keine Geisel der
Innenpolitik mehr. Das (vorläufige) Ende der Parteipolitisierung von
Außenpolitik passt nicht nur zum Naturell der Kanzlerin und des
Außenministers, der als erfahrener Spitzenbeamter alles andere als
ein Rummelboxer sein will; es fügt sich auch in die Gesetzmäßigkeiten
der großen Koalition ein. Würden SPD oder Union den Versuch machen,
aus der Außenpolitik für sich Kapital zu schlagen, würde dies
vermutlich keinem nutzen und Deutschlands angepeilte Rolle als
ehrlicher Makler schwächen.
Brüssel (Europa plus Nato), Paris, Warschau, Washington, Moskau:
Merkel hat sich bei ihren Antrittsbesuchen, bei denen es
vordergründig vor allem ums Atmosphärische ging, denn Dinge von
großer Substanz waren bei dieser Gelegenheit nicht zu besprechen, als
parkettsicher erwiesen. Deshalb wird ein George Bush freilich weder
ablassen von seiner unilateralen, rüden „America first”-
Außenpolitik, noch von seinem inakzeptablen Umgang mit
Freiheitsrechten; und Putin wird die neu-nationale, neo-imperiale
Linie in seiner Territorial- (Tschetschenien) und Energiepolitik
(Ukraine) nicht verlassen. Aber der Halb-Demokrat hat nun dabei
seinen wichtigsten Dulder und Bündnispartner verloren.
Merkels Maßstäbe sind transparent und nachvollziehbar. Sie spricht
in Washington wie in Moskau dieselbe Sprache, ausgehend vom Wert der
Freiheit. Wie Steinmeier, analysiert sie die Dinge
naturwissenschaftlich, um sie hernach ideologiefrei, also pragmatisch
zu lösen. Konflikte werden nicht angeheizt, sondern kühl, bisweilen
auch cool, moderiert. Kopf- statt Bauchpolitik: Das macht die
Kanzlerin und ihre gesamte Regierung berechenbar und erschließt
Berlin außenpolitische Spielräume.
Gewiss, damit ist noch keines der drängenden internationalen
Probleme gelöst. Nicht die Iran-Frage, nicht die immer noch
schwelende Krise Europas, nicht die Befriedung des Nahen Ostens, die
Globalisierungsfolgen allerorten, von Afrika nicht zu reden. Aber
erst der außenpolitische Neubeginn in Deutschland schafft dafür die
Voraussetzung.

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