All Stories
Follow
Subscribe to DIE ZEIT

DIE ZEIT

Peter Eisenman protestiert gegen Baustopp am Holocaust-Mahnmal

Hamburg (ots)

Die NS-Vergangenheit des am Bau des Berliner
Holocaust-Mahnmals beteiligten Unternehmens Degussa hat dazu geführt,
dass die Stelen vorerst nicht mehr aufgestellt werden. Der Architekt
des Mahnmals, Peter Eisenman, protestiert dagegen in der ZEIT.
Eisenman: "Unter den vielen heute noch bestehenden deutschen
Firmen, die in den Zweiten Weltkrieg verwickelt waren, erwies sich
gerade Degussa bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit als
Vorreiter und spielt eine führende Rolle bei der Einrichtung eines
Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter." Der Architekt
denkt an die Zukunft: "Wir können heute nicht mehr alle Deutschen für
die Sünden ihrer Väter und Großväter verantwortlich machen. Wir
müssen nach vorne blicken. Das heißt nicht, dass wir vergessen
sollen."
Peter Eisenman warnt: "Es geht hier nicht darum, ob Degussa ein
besseres Produkt oder ein günstigeres Angebot vorzuweisen hat. Es
geht darum, dass wir uns 60 Jahre nach dem Holocaust nicht mehr zu
Geiseln der Political Correctness machen lassen dürfen. Wäre das
Projekt schon in dem Geist begonnen worden, in dem es nun fortgeführt
zu werden droht, hätte ich nie mitgewirkt."
Nachstehend der vollständige Beitrag von Peter Eisenman:
Es grenzt an Ironie, dass ein Architekt, dessen Arbeit mehr mit
Abstand als mit Nähe und eher mit Schweigen als mit Reden zu tun hat,
an einem Projekt beteiligt ist, das ihm weder erlaubt, in sicherem
Abstand zu verweilen noch sich in Schweigen zu hüllen. Es ist eine
Sache, kritische Distanz zum Entwurf eines Opernhauses zu wahren,
aber es ist eine ganz andere, wenn es sich um das deutsche Mahnmal
für die Opfer des Holocaust handelt. Obwohl manche das behaupten,
betrachte ich mich selbst keineswegs nur als eine Maschine, als einen
Mann, der alles tut, was die Kunden von ihm wollen. Als Architekt des
Mahnmals für die in Europa ermordeten Juden muss ich mich deshalb
gegen die Bemühungen des Kuratoriums aussprechen, einen
vorübergehenden Baustopp zu erwirken, nur weil ein Subunternehmer vor
über 60 Jahren an verwerflichen Taten beteiligt war.
Obwohl ich verstehe, dass einige Mitglieder der jüdischen
Gemeinde, speziell der deutschen, empfindlich auf den Namen Degussa
reagieren, darf eine solche emotionale Reaktion auf diesen
Firmennamen nicht weiter den Lauf der Geschichte hemmen. Unter den
vielen heute noch bestehenden deutschen Firmen, die in den Zweiten
Weltkrieg verwickelt waren, erwies sich gerade Degussa bei der
Aufarbeitung seiner Vergangenheit als Vorreiter und spielt eine
führende Rolle bei der Einrichtung eines Entschädigungsfonds für
ehemalige Zwangsarbeiter. Wir können heute nicht mehr alle Deutschen
für die Sünden ihrer Väter und Großväter verantwortlich machen. Wir
müssen nach vorne blicken. Das heißt nicht, dass wir vergessen
sollen. Darum hat man sich für das Mahnmal und diesen Entwurf
entschieden: um es einer dritten Generation und einer vierten und
fünften zu ermöglichen, sich zu artikulieren. Nicht um die Debatte zu
beenden, sondern um ihr neue Impulse zu geben. Man könnte sagen, dass
die Kontroverse um die Beteiligung der Degussa am Mahnmal etwas
Positives hat. In gewisser Weise rächt sich hier die Geschichte.
Trotz aller Versuche, sie zu verdrängen, tritt sie früher oder später
wieder zutage - man kann sie einfach nicht verdrängen. Die Menschen
brauchen die unablässige Auseinandersetzung mit dem Unauslöschlichen.
Würde man Degussa die Beteiligung an diesem Projekt verweigern, hieße
das, die Aufarbeitung der Schuld als Privileg zu behandeln. "Sprich
nicht zu laut, kleide dich nicht zu auffällig" - das waren die
Warnungen der Deutschen an die Juden. Sind wir gerade dabei, ähnliche
Maßregelungen zu erteilen?
Indem wir Degussa das Recht an einer Beteiligung absprechen,
erlauben wir es der Vergangenheit, uns blind zu machen für all das,
was sich bis heute getan hat. Es geht hier nicht darum, ob Degussa
ein besseres Produkt oder ein günstigeres Angebot vorzuweisen hat. Es
geht darum, dass wir uns 60 Jahre nach dem Holocaust nicht mehr zu
Geiseln der Political Correctness machen lassen dürfen. Wäre das
Projekt schon in dem Geist begonnen worden, in dem es nun fortgeführt
zu werden droht, hätte ich nie mitgewirkt.
Es liegt in der Natur der Architektur - und ganz besonders in der
Natur meiner Architektur - , die Bürokratie des Status quo
herauszufordern. Im Falle des Berliner Mahnmals sich mit weniger zu
begnügen hieße, das Andenken derer, die wir nicht vergessen dürfen,
zu beschmutzen.
Peter Eisenman ist der Architekt des Berliner Holocaust-Mahnmals
Für Rückfragen melden Sie sich bitte bei Elke 
Bunse, DIE ZEIT Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, (Tel.: 040/ 
3280-217, Fax: 040/ 3280-558, E-Mail:  bunse@zeit.de

Original content of: DIE ZEIT, transmitted by news aktuell

More stories: DIE ZEIT
More stories: DIE ZEIT
  • 29.10.2003 – 10:46

    Filmregisseur Takeshi Kitano über Gewalt und Mode

    Hamburg (ots) - "Ich halte Dolls für meinen gewalttätigsten Film, denn die Gewalt erfasst hier auch Menschen, in deren Alltag sie normalerweise keine Rolle spielt", sagt der japanische Filmregisseur Takeshi Kitano über seinen neuen Film in der ZEIT. Die Ursache dafür sieht Kitano in der japanischen Gesellschaft: "Ich lebe in einem Land, in dem alles käuflich ist und jeder Familienvater in erster Linie seinem Chef ...

  • 29.10.2003 – 10:44

    Schriftsteller Faraj Sarkohi: Teherans Atomwaffen-Verzicht ist nicht glaubwürdig

    Hamburg (ots) - Die Beteuerungen der iranischen Regierung, sie wolle auf den Bau einer Atombombe verzichten, seien nicht glaubwürdig, erklärt der iranische Schriftsteller Faraj Sarkohi in der ZEIT. "Der Iran hat zahlreiche Gründe, den Besitz von Atomwaffen anzustreben. Sie liegen in der iranischen Geschichte, der geopolitischen Lage des Landes und der Psychologie ...

  • 29.10.2003 – 10:41

    Alice Schwarzer: Frauen dürfen nicht Vorbild sein

    Hamburg (ots) - Frauen werden Fußballweltmeisterinnen und bestimmen auf allen Ebenen der Politik mit. Warum die Gesellschaft sie trotzdem nicht als Vorbilder akzeptiert, schreibt Alice Schwarzer in der ZEIT: "Männer haben Vorbilder und Idole ... Für Frauen jedoch gibt es ein regelrechtes Verbot, sich als Vorbild zu begreifen oder gar darzustellen. Denn das hieße ja, dass eine Frau sich selbst ernst nimmt." ...