All Stories
Follow
Subscribe to Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: ,,Europa wird in 20 Jahren zu klein sein" LZ-Interview mit EU-Kommissar Günter Verheugen

Lüneburg (ots)

Das Nein der Iren zum Reform-Vertrag von Lissabon
bringt Europa erneut in Bedrängnis. Die Lösungsvorschläge reichen vom
Rauswurf der Skeptiker bis zu einem Erweiterungsstopp. EU-Kommissar 
Günter Verheugen lehnt im Interview mit unserer Zeitung 
Schnellschüsse ab. Der SPD-Politiker sieht die Handlungsfähigkeit der
EU nicht eingeschränkt -- auch nicht durch den Beitritt weiterer 
Länder.
Wie groß ist der Frust für einen Europapolitiker, wenn man nach 
jahrelangen zähen Verhandlungen immer wieder vor einem Scherbehaufen 
steht?
Günter Verheugen: Ich bin nicht frustriert, wenn ein Volk von seinem 
demokratischen Recht Gebrauch macht, zu einer politischen 
Entscheidung Ja oder Nein zu sagen. Das müssen wir akzeptieren. Dass 
man bei der Weiterentwicklung der europäischen Integration immer 
wieder Rückschläge einstecken muss, wissen wir seit Jahrzehnten. Wir 
wissen aber auch, dass diese Hindernisse immer überwunden wurden. Wir
werden auch das irische Problem überwinden.
Der Vertrag von Lissabon steht für mehr Demokratie und weniger 
Bürokratie. Wenn die Bürger das Wort haben, sagen die dennoch häufig 
Nein. Warum gelingt es nicht, den Menschen Europa nahe zu bringen?
Verheugen: Der Reform-Vertrag von Lissabon zieht die Lehren aus dem 
Unbehagen gegenüber der EU, das wir in vielen europäischen 
Gesellschaften erleben. Dieser Vertrag ist ja der Versuch, mehr 
Transparenz, mehr Demokratie und bessere Entscheidungsabläufe zu 
verwirklichen. Der Vertrag soll das Subsidiaritätsprinzip fester 
verankern, er weist den nationalen Parlamenten eine größere Rolle zu,
sorgt für eine angemessene und wirkungsvolle Vertretung nach außen --
alles das, was die Bürgerinnen und Bürger ausweislich aller Umfragen 
und Debatten in Europa wollen. Trotzdem haben die Iren Nein gesagt. 
Gleichzeitig haben sie aber die positivste Einstellung zur 
Europäischen Union unter allen Mitgliedstaaten. Ich sehe dafür zwei 
Gründe. Erstens: Bei Referenden muss man immer damit rechnen, dass 
das Ja oder Nein sich gar nicht auf die eigentliche Referendumsfrage 
bezieht, sondern dass ganz andere Themen eine Rolle spielen. Und 
zweitens ist es in der Tat so, dass in vielen europäischen 
Gesellschaften -- auch bei uns in Deutschland -- das Wissen darüber, 
dass wir ohne die europäische Integration im 21. Jahrhundert weder 
Wohlstand noch Sicherheit und Freiheit verteidigen können, nicht mehr
so präsent ist, wie es in den Gründerjahren der EU gewesen ist.
Ist die Kommunikationspolitik gescheitert oder ist das Thema 
Europa für die Bürger einfach zu komplex?
Verheugen: Bei aller Vorsicht glaube ich, dass Internationale 
Verträge, die sich mit außerordentlich komplizierten institutionellen
Fragen beschäftigen, nicht der ideale Gegenstand für einen 
Volksentscheid sind. Aber es hat keinen Sinn, sich darüber Gedanken 
zu machen. Der Vertrag sieht Hoheitsübertragungen auf die europäische
Ebene vor, und laut irischer Verfassung kann das nur durch einen 
Volksentscheid bewilligt werden. Jedes Land muss seiner 
verfassungsmäßigen Ordnung entsprechend den Ratifizierungsprozess 
vorantreiben. Zudem haben wir keine europäische Öffentlichkeit und 
kein europäisches Volk. Deshalb muss die Kommunikation und die 
Diskussion über Europa auf der nationalen Ebene stattfinden. Die 
Lehre, die ich nicht nur aus dem irischen Votum, sondern aus vielen 
Jahren Erfahrung mit Europa ziehe, ist: Wenn die nationalen Eliten in
ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich, sei es Politik, Gesellschaft 
oder Wirtschaft, nicht für Europa eintreten, dann kann man nicht 
erwarten, dass eine breite öffentliche Meinung zugunsten Europas 
entsteht. Schon gar nicht, wenn die Debatte nach dem Schema verläuft:
Alles, was schlecht ist, kommt aus Brüssel und alles, was gut ist, 
haben wir gemacht. Als Mitglied der Europäischen Kommission muss man 
auch mal als Sündenbock für Dinge herhalten, für die die nationalen 
Regierungen nicht gern die Verantwortung übernehmen. Aber das ist in 
Ordnung, darüber beklage ich mich nicht. Wohl aber darüber, dass 
einfach nicht begriffen wird, dass Europa heute mehr ist als das 
Friedensprojekt, als das es gestartet ist. Das wird es immer bleiben 
müssen, aber im 21. Jahrhundert haben wir noch eine ganz andere 
Aufgabe: Es geht darum, Europa richtig zu positionieren in einer sich
grundlegend verändernden Welt. Wir haben es ja nicht nur mit einer 
wirtschaftlichen Globalisierung zu tun, mit neuen ökonomischen 
Supermächten, sondern mit einer Welt, die politisch wieder multipolar
wird. Für uns als Europäer ist die große Frage: Schaffen wir es, 
unsere ökonomische Stärke in politischen Einfluss zu übertragen? 
Letztlich geht es um die Behauptung unserer europäischen Lebensform.
Das scheint schwer vermittelbar zu sein...
Verheugen: Das ist eigentlich gar nicht schwer zu vermitteln. Wenn 
ich mit den Menschen über die direkten Auswirkungen der 
Globalisierung auf das Leben jedes einzelnen rede und darüber, was 
wir machen, um das so zu gestalten, dass wir weder unseren 
Lebensstandard noch unsere hohen Sozial- und Umweltstandards aufgeben
müssen, finden die Leute das faszinierend. Es ist auch nicht schwer 
zu erklären, warum die europäische Integration nicht einfach sein 
kann. Sie ist deshalb so kompliziert, weil wir uns bewusst dafür 
entschieden haben, eine Gemeinschaft zu sein, ohne die 
Nationalstaaten abzuschaffen.
Die Bedenken der Iren waren absehbar, nach dem dort bereits der 
Vertrag von Nizza im ersten Anlauf gescheitert ist. Warum wird erst 
jetzt über einen Plan B diskutiert?
Verheugen: Der Vertrag von Lissabon ist der Plan B. Er ist die 
Alternative zu der Verfassung, die in den Niederlanden und in 
Frankreich gescheitert ist. Wenn man einen internationalen Vertrag zu
ratifizieren hat, und um mehr geht es ja nicht, dann kann man den 
Leuten doch nicht sagen: Wenn ihr das nicht wollt, machen wir etwas 
anderes. Die Regierungen haben das vorgelegt, was sie für richtig und
notwenig hielten.
Sie lehnen einen Rauswurf der Iren genauso strikt ab wie 
Zugeständnisse an einzelne Länder. Heißt die Lösung abstimmen, bis 
alle Ja sagen?
Verheugen: Ein Rauswurf als Bestrafung dafür, dass ein Volk von 
seinem demokratischen Recht Gebrauch macht, ist eine unvertretbare 
Idee. Aber man kann den Iren auch nicht sagen: Hinsetzen und 
weitermachen. Insbesondere deshalb nicht, weil man ja auch den 
Niederländern und Franzosen nach den gescheiterten 
Verfassungsreferenden nicht gesagt hat, sie müssten es noch einmal 
versuchen. Mir scheint, dass die Iren jetzt selber etwas ratlos sind.
Was sie tun werden, weiß heute niemand. Man muss Irland jetzt Zeit 
geben. Bei früheren Verträgen hat man, wenn ein Land damit 
Schwierigkeiten hatte, gelegentlich von der Methode des sogenannten 
"Opt-out" Gebrauch gemacht. Das heißt, dass bestimmte neue 
Politikfelder für einzelne Länder ausgeklammert wurden. Etwa bei der 
Außen- und Sicherheitspolitik oder bei der Innen- und Rechtspolitik. 
Aber jetzt geht es nicht um neue Politikfelder, sondern um 
Entscheidungsverfahren und Institutionen, also um die internen 
Spielregeln. Ich weiß nicht, wie eine Institution funktionieren soll,
wenn in ihr für die Mitglieder unterschiedliche Regeln gelten.
Solange der Lissabon-Vertrag nicht ratifiziert ist, gilt der alte 
Nizza-Vertrag, von dem es schon damals hieß, es habe Schwächen und 
sei nur ein temporär tragbarer Kompromiss. Ist die EU noch 
handlungsfähig?
Verheugen: Der Vertrag von Nizza hat dieselben Schwächen wie die 
Vorläuferverträge von Maastricht und Amsterdam. Europa bricht deshalb
aber nicht zusammen. Wir haben einige Jahre mit dem Vertrag von Nizza
gelebt. Es ist nicht so, dass wir politikunfähig wären. Die 
Kommission und das Parlament sind in ihrer Arbeit überhaupt nicht 
beeinträchtigt. Wir haben eine vertragliche Grundlage, aber die 
reicht nicht für die Zukunft. Wir brauchen etwas Besseres.
Nicolas Sarkozy hat damit gedroht, Kroatien den Beitritt zu 
verwehren, sollte bis zum Jahresende keine Einigung erzielt werden. 
Spiegelt die Drohung auch die Angst vor einer Überdehnung der EU 
wider?
Verheugen: Diese Frage steht natürlich auch im Hintergrund der ganzen
Debatte -- davor kann man die Augen nicht verschließen. Dass ich der 
Meinung bin, dass die Erweiterung ein großer Erfolg für Europa war, 
wird Sie nicht überraschen. Der Erweiterungsprozess wird weitergehen.
Wir sind jetzt wieder bei der uralten Frage, was zuerst kommen soll: 
die Reform oder die Erweiterung. Ich habe immer den französischen 
Standpunkt für richtig gehalten, dass die Reform zuerst kommen sollte
-- aber es ging nicht. Und wir konnten die Völker in Mittel- und 
Osteuropa nicht länger hinhalten. Die Verhandlungen mit Kroatien sind
zwar weit fortgeschritten, aber ich bin sicher, dass wir das durch 
das irische Referendum geschaffene Problem gelöst haben werden, ehe 
es zum Beitritt kommt. Die drohende Überdehnung ist kein neues 
Argument. Aber wir schaffen ja kein Imperium und auch keinen Staat. 
Europa ist ein freiwilliger Zusammenschluss. Wir werden es in Zukunft
mit Wirtschaftsräumen zu tun haben, die jeweils deutlich mehr als 
eine Milliarde Verbraucher umfassen. In Europa sind es heute weniger 
als die Hälfte. Ich sage ganz klar: Europa wird zu klein sein in 20, 
25 Jahren. Jede Vergrößerung des Binnenmarktes macht uns ökonomisch 
und politisch stärker, nicht schwächer.
Erschwert das irische Votum die Beitrittbemühungen der Türkei?
Verheugen: Nein, da gibt es keinen Zusammenhang. Die Verhandlungen 
mit der Türkei laufen und sind trotz vielfacher Ankündigungen von 
allen möglichen Seiten weder verlangsamt noch gestoppt worden. Sie 
werden aber noch relativ viel Zeit brauchen und ich möchte heute 
keine Spekulationen darüber anstellen, wohin der Prozess führt. Aber 
für unsere politische und ökonomische Zukunft ist es absolut zentral,
dass die Türkei fest im Lager der westlichen Demokratien verankert 
ist.
Sie haben einer EU-Reform ohne die Iren, wie sie Außenminister 
Steinmeier ins Gespräch gebracht hat, eine Absage erteilt. Ist ein 
Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht längst Realität?Den Euro 
haben auch noch nicht alle Mitgliedsländer eingeführt.
 Verheugen: Ja, es gibt bereits zwei Geschwindigkeiten in Europa, 
etwa bei der Währungsunion, beim Schengen-Raum und bei Teilen der 
Innen- und Rechtspolitik. Aber das bringt mich nicht dazu zu sagen, 
dass das gut ist. Ich sehe darin kein erstrebenswertes Modell, es 
erleichtert die europäische Politik nicht.
Die Bundesregierung arbeitet daran, die Bürokratiekosten zu 
senken. Sie haben einen "Small Business Act" angekündigt, wollen 
kleine und mittlere Unternehmen von Bürokratiekosten entlasten. Wie 
groß schätzen Sie das Entlastungspotenzial für die Unternehmen ein?
 Verheugen: Der in dieser Woche von der Kommission vorgelegte "Small 
Business Act" geht viel weiter. Die Entlastung kleinerer und 
mittlerer Unternehmen ist nur ein Teil dessen. Im Übrigen läuft 
dieses Projekt schon seit mehr als zwei Jahren. Es bezieht sich nicht
nur auf kleinere Unternehmen. Das Ziel ist, die Bürokratiekosten für 
Unternehmen um durchschnittlich 25 Prozent zu reduzieren. Wir sind im
Augenblick dabei, in ganz Europa die tatsächlichen Bürokratiekosten 
zu messen. Das ist etwas, was es noch nie gegeben hat. Wir wollen in 
der Lage sein, genau zu beziffern, welche Vorschriften in einem 
Unternehmen welche Kosten verursachen. An der Stelle kommt dann auch 
die berühmte Stoiber-Gruppe ins Spiel. Sie soll uns beraten, weil das
Leute aus der Praxis sind. Insgesamt rechnen wir damit, dass der 
Bürokratiekostenabbau für die europäische Volkswirtschaft zu einem 
Wachstumsschub von 1,4 bis 1,5 Prozent führen wird.
Zu viel Bürokratie gilt als ein zentraler Kritikpunkt an der EU. 
Wie verträgt sich Ihre Initiative mit der Tatsache, dass Brüssel 
zugleich immer mehr eigene Verwaltungen in vielen Mitgliedsstaaten 
--- allein seit 2000 sind 24 der 35 Agenturen mit 4500 Mitarbeitern 
und einem Gesamtbudget von 1,3 Milliarden Euro entstanden -- aufbaut?
Verheugen: Die Agenturen sind kostengünstiger als die Zentralisierung
in den Generaldirektionen der Kommission. Es ist vernünftig, nicht 
alles zentral aus Brüssel zu steuern. Was hier gemacht wird, ist 
nichts anderes, als das System von Bundes- und Landesbehörden in 
Deutschland, das für die Umsetzung gleichförmiger Vorgänge zuständig 
ist. Die Agenturen sind über ganz Europa verteilt und wirken so dem 
Entstehen eines wirklichen Molochs in Brüssel entgegen.
Das Gespräch führte Klaus Bohlmann

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original content of: Landeszeitung Lüneburg, transmitted by news aktuell

More stories: Landeszeitung Lüneburg
More stories: Landeszeitung Lüneburg