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Wir sind immer noch mehr
Obwohl die Gesellschaft gefühlt in lauter Extreme zerfällt, diagnostizieren Studien wachsendes Vertrauen in die Regierenden. Von Angelika Sauerer

Regensburg (ots)

Hält uns noch etwas zusammen? Wie lange dauert es, bis uns der Laden um die Ohren fliegt? Fragen, die sich aufdrängen - und zwar nicht nur angesichts der eskalierenden Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Diese diffuse Beunruhigung, die davon ausgeht, ist nicht neu. Wir kennen sie bereits von den wutbürgerlichen Pegida-Demos, von fremdenfeindlichen Aufmärschen, zum Beispiel vor ziemlich genau zwei Jahren in Chemnitz. Wir kennen sie als Folge rechter, antisemitischer, frauenfeindlicher und demokratiefeindlicher Gewalt und Anmaßung. Wir kennen sie aber auch von links. Wie Globalisierungsgegner am Rande des G20-Gipfels im Hamburger Schanzenviertel gewütet haben, auch das hinterlässt einen fassungslos. Fassungslos scheint der richtige Begriff zu sein. Denn die Gesellschaft verliert zunehmend - so zumindest nimmt man es wahr - die Fassung, und zwar in doppelter Hinsicht: den einenden Rahmen ebenso wie die beherrschte Contenance. Der Ton in den Filterblasen der Gesellschaft ist alarmiert und aufgewühlt. Dort findet sich Zusammenhalt im Kleinen. Im Großen fehlt er. Dieser Wahrnehmung stehen Studien der Bertelsmann-Stiftung entgegen. Seit Jahren beobachten Soziologinnen und Soziologen, wie sich der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland entwickelt. Mitte August konstatierten sie, der Zusammenhalt habe sich in der Corona-Krise als robust erwiesen und sei in den ersten Monaten nach Ausbruch der Pandemie sogar noch gewachsen. Gestiegen sei auch das Vertrauen in die Bundesregierung und in die Kompetenz der Städte und Gemeinden - von 19 bzw. 37 Prozent im März auf 45 bzw. 47 Prozent im Juni. Die Zufriedenheit mit der Demokratie erhöhte sich von 50 auf 60 Prozent. Laut "Populismusbarometer" ging die Anfälligkeit für Populismus von einem Drittel auf ein Fünftel zurück. Da reibt man sich die Augen. Wer regelmäßig in den Sozialen Medien unterwegs ist, registriert ein anderes Stimmungsbild - das einer zerstrittenen, unzufriedenen Nation, die wenig gut findet, was ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter entscheiden. Allerdings nennt die Zusammenhalt-Studie auch soziale Gruppen, die sich vermehrt ausgeschlossen fühlen: Menschen mit geringerer Bildung, weniger Einkommen oder mit Migrationshintergrund. Zudem diagnostizierte sie einen politischen Trend: "Die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen, CDU, CSU, SPD und FDP bewerten den Zusammenhalt deutlich positiver als die Anhänger der Linkspartei und insbesondere der AfD sowie politisch ungebundene Personen". Anhängern der AfD fehle es dabei an "generellem Vertrauen, der Akzeptanz von Diversität und dem Vertrauen in Institutionen". Mangelnde soziale Gerechtigkeit sei für Nahestehende der Linkspartei der Hauptgrund, sich nicht zugehörig zu fühlen. Es sind die Ränder, an denen die Gemeinschaft ausfranst, nicht die Mitte. Unter dem einenden und wohlfeilen Dach des Widerstands gegen die Corona-Maßnahmen bilden sie eine ungleiche und unheilige Allianz, die allerdings lauter tönt und stärker wirkt, als sie ist. Die Gemeinschaft der Mitte indes macht sich schwächer, als sie ist, indem sie sich - im Moment jedenfalls - darauf beschränkt, ihre Identität vor allem durch hektische Abgrenzung von den Rändern zu definieren. So lässt sich deren fortschreitende Erosion nicht stoppen. Besser wäre es, das Wir gemeinsamer Werte zu propagieren. Das hat schon einmal gut funktioniert. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren, am 3. September, fand in Chemnitz die erste Demonstration unter dem Hashtag #wirsindmehr statt, als Antwort auf die fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Das Thema ist noch virulent, neue kamen hinzu. Und wir sind immer noch mehr.

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