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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Sebastian Heinrich zu Calais/Asylpolitik

Regensburg (ots)

Jetzt ist es dann wohl bald weg, das Lager von Calais. Die Bilder aus Nordfrankreich, von den Hütten und Zelten am Rand verschlammter Wege werden nicht mehr durch die Wohnzimmer flimmern. Lkw-Fahrer auf dem Weg nach Großbritannien werden nicht mehr erleben müssen, dass Flüchtlinge Planen aufschlitzen, sich auf ihren Ladeflächen verstecken, dass sie Leichen von Migranten finden. Der Dschungel von Calais wird weg sein, so wie das Lager im nordgriechischen Idomeni jetzt weg ist. Die Flüchtlinge werden andernorts unterkommen, es wird neue Lager geben, vielleicht kleinere, weniger sichtbare. Aber die eine große Frage wird unbeantwortet bleiben: Wie will Europa umgehen mit den Menschen, die hier Zuflucht suchen? Sie kommen ja weiter an: Am Montag erreichten Boote voller Menschen Sizilien - 4000 von ihnen lebendig, 15 als Leichen. Allein in Italien waren es in diesem Jahr 153 450 Menschen. In Calais zeigt sich vieles von dem, was in der europäischen Flüchtlingspolitik falsch läuft. Die Mitgliedsländer der EU sind nicht in der Lage, eine gemeinsame Lösung zu finden für die Aufnahme der wenigen tausend Menschen, die in Calais hausen, im größten Slum des Kontinents, wie ihn viele Beobachter nennen. Was für ein jämmerliches Bild für eine Staatengemeinschaft, die sich auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet. So steht es wörtlich in der Grundrechte-Charta der EU. Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität: von wegen. Die Asylpolitik in Europa folgt seit Jahren vor allem einem Prinzip: aus den Augen, aus dem Sinn. Diesem Prinzip ist Deutschland jahrelang gefolgt, indem es über das Dublin-Verfahren die Verantwortung für die Asylbewerber aus Afrika und Nahost auf Spanien, Italien und Griechenland abschob - das war nicht mehr als nationaler Egoismus, was auch Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich zugegeben und immerhin bedauert hat. Dem Aus-den-Augen-Prinzip folgen jetzt die sogenannten Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, indem sie sich der Aufnahme von Flüchtlingen quasi komplett versperren. Und auch der Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei dient vor allem diesem Zweck: die Syrer, Afghanen, Iraker von Europa fernzuhalten - aus den Augen, aus dem Sinn. Es gibt viele Menschen, die es für goldrichtig halten, nach diesem Prinzip zu handeln. Die davon sprechen, dass man Flüchtlinge durch eine noch stärkere Abschottung der europäischen Außengrenzen und schlechte Lebensbedingungen in europäischen Flüchtlingslagern "abschrecken" müsse, dass die Europäer Bilder vom Elend außerhalb der Grenzen des Kontinent "aushalten" müssten. Das mag einfach und schlüssig klingen. Es ist aber falsch. Nicht nur, weil es inhuman ist - sondern, weil dieses Abschrecken nicht funktioniert. Das haben die vergangenen Jahre gezeigt. 1993 verschärfte Deutschland das Asylrecht massiv, später wurde auf EU-Ebene das Dublin-Verfahren eingeführt. Es wurden Zäune errichtet in der spanischen Exklave Melilla, Abkommen abgeschlossen mit Diktatoren wie dem Libyer Ghaddafi und dem Ägypter Mubarak. Und doch sind die Menschen weiter über das Mittelmeer geflüchtet, sind zu Tausenden ertrunken und zu Hunderttausenden angekommen. Die - für viele Europäer bittere - Wahrheit ist: Die Flucht vieler Menschen aus Armut und Krieg nach Europa lässt sich auf absehbare Zeit nicht verhindern. Die Europäische Union sollte sich jetzt zwei große Ziele setzen. Das kurzfristige Ziel sollte mehr legale, kontrollierte Migration nach Europa sein. Das wäre der einzige Weg, um die illegale, unkontrollierte Migration einzudämmen. Langfristig müsste die EU die Fluchtursachen so bekämpfen, dass daraus mehr wird als eine Floskel auf Parteitagen. Es darf nicht sein, dass der deutsche Export von Kleinwaffenmunition weiter explodiert - und dass europäischer Außenhandel die Lebensgrundlagen vieler Menschen in Afrika weiter zerstört. Doch das ist Wunschdenken im Europa der nationalen Egoisten, die nur das eine denken: Aus den Augen, aus dem Sinn.

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