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Sind die San nicht die eigentlichen Verlierer der Geschichte?

Sind die San nicht die eigentlichen Verlierer der Geschichte?
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Kolonisation zwischen Waterberg und Tsodilo-Hills

Politiker und Historiker diskutieren im Entkolonialsierungseifer: war der Herero-Aufstand mit der Entscheidungschlacht am Waterberg 1904 und gefolgter Vertreibung der Herero nach Osten in Richtung der britischen Nachbarkolonie, heute Botswana, der erste Genozid im 20. Jahrhundert? Sind die Hereros wirklich - wie durch General Lothar von Trotha geplant – in der Kalahari verdurstet? Überreste von tausenden Toten wurden nie gefunden. In Botswana leben heute 21.000 Hereros, Nachfahren der vertriebenen Hereros.

Jetzt wurde ein Versöhnungsabkommen mit einem Volumen von 1,1, Milliarden € paraphiert und Bundesminister des Auswärtigen Heiko Maas hat den Krieg zwischen den Deutschen Schutztruppen und den Herero und Namaqua in Deutsch-Südwestafrika (1904-1907) als Völkermord anerkannt. Eine erste Entschuldigung hatte es zum 100. Jahrestag des Krieges am Waterberg durch die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul gegeben. Empörung stieg auf, als zum Festakt plötzlich die Reichskriegsflagge gehisst wurde. Ein namibisches Regierungsmitglied, ein kräftiger Ovambo, trat auf die Ministerin zu und beschwichtigte in breitem Sächsisch: „Nu bassn se mal uff Frau Widschoregg-Tsoil, die doidsche Geschichde is och Deil unsra Geschichde!“ Entwicklungshilfe hatte es schließlich schon vor der Wende gegeben, auch von der DDR, insbesondere im Ausbildungssegment.

Mehrmals reise ich in das südliche Afrika, um mir selbst ein Bild von den großartigen Landschaften, der Artenvielfalt und der Geschichte Namibias und Botswanas zu machen. 1998 stehe ich das erste Mal vor dem Waterberg, 2017 vor den Tsodilos und stelle mir die Frage: waren nicht eigentlich die Sān, die von einwandernden Bantustämmen und europäischen Kolonisten verdrängte indigene Bevölkerung?

Wie ein Block ragt der Waterberg 200 Meter aus dem Kalahari-Becken auf. Eine grün gesäumte Festung in der trockenen Savanne. Ein Schwamm aus Sandstein, der das Wasser hält und Leben an dieser Stelle vor den Toren der auf 1000 Meter liegenden Kalahari einfacher macht. Von hier bis zu den Tsodilos in Botswana nomadisieren seit weit über hunderttausend Jahren die Sān. Die Buschmänner sind die älteste rezente menschliche Kultur, eine Kultur von Jägern und Sammlern. In den letzten 25 Jahren ist ihre Population um 2/3 in Namibia auf 38.000 und in Botswana auf 49.000 zusammengeschrumpft. Nur etwa 2.500 San gehen noch ihrer traditionellen Lebensweise nach. Im Vergleich dazu ist die Population der Herero von geschätzt 65-80.000 vor 1904 100 Jahre nach dem Völkermord auf 320.000 angestiegen, davon 164.000 in Namibia.

Alle hatten sich im letzten Jahrhundert am Waterberg versucht: Damara, Herero, Namaqua, Deutsche. Zwei kleine Kriegsgräber säumen den Berg: eines für die abgeschlachteten Hereros und eines für die gefallenen deutschen Soldaten. Zwei ungleiche Eroberer eines fremden Landes, dem Land der Sān, gaben sich hier 1904 eine Schlacht. Die Sān hatten sich schon vorher tiefer in die Dornenstrauchsavanne zurückgezogen und nur ihre tausendjährigen Tierzeichnungen zurückgelassen, die rostrot über den von Ocker nach Rot changierenden Sandstein durch die Geschichte huschen. Elanantilopen und Afrikanische Büffel leben noch heute hier, inzwischen durch einen Nationalpark vor Wurfspeeren und Schießgewehren geschützt.

Andreas klettert mit mir den Tafelberg hinauf, kaum das Plateau erreicht, schleudert uns eine Schar graugefiederter Lärmvögel ihr typisches go-away aus dem kratzigen Kameldorn entgegen. Andreas, ein Ovambo mit kolonial-lutheranischem Namen, grinst die nicht eben kleinen Schnatterhälse gelassen an. In seinem schwarzen Gesicht strahlen seine weißen Zähne viel makelloser, als in jeder noch so weißen blend-a-med-Reklame. Selbst die Lärmvögel scheinen geblendet und erheben ihre wuchtigen Körper unter kräftigem Flügelschlagen hinfort zum nächsten Stachelstrauch. Andreas führt mich über das Plateau. Gerade können wir noch das davonstampfende Hinterteil eines Breitmaulnashorns im Busch entdecken. Es ist schneller fort, als mein Puls zu steigen vermag. Dann stehen wir an der Kante des Tafelbergs. Endlos erstreckt sich das Kalahari-Becken nach Osten. Unsichtbar hinter dem flimmernden Horizont - in 600 Kilometern Entfernung - liegen die Tsodilos. Dazwischen, viel weiter als das Auge reicht, das Omaheke-Sandveld der wildbeutenden Sān.

Mit einem Miet-Toyota fahre ich tiefer in das Kalahari-Becken hinein. Das Grün des Tafelberges und die Rinderherden der Hereros im Rücken treffe ich in einem von Deutschland unterstützten cultural village zur Erhaltung der traditionellen Lebensweise auf die !Kung-Sān: Pfefferkornhaar, pergamentgelbe Haut, lederne Lendenschurze, Klicklaute, die wir mit unseren domestizierten Mündern nicht nachartikulieren könnten. Nur anderthalb Meter ragen die Fliegengewichte aus dem Kalahari-Sand und pirschen mit Pfeil und Bogen bewaffnet einer Gazelle hinterher. Heute ist das Jagen, dem die ǃKung hier seit abertausend Jahren in eben dieser Gegend nachgehen, von der Namibischen Regierung verboten. Aber wo auf der Welt hätten sich Eroberer je um die Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung gekümmert, denen sie das Land mit allem Drum und Dran, dem Wild zum Jagen, den Uranvorkommen und Diamanten im Boden, abgeluchst hatten.

Jumanda, ein Medizinmann zieht mich tiefer in die Savanne die sich über den ockergelben Sand streckt. Pfeil und Bogen hält der kleine Mann fest in der Hand, den Visus in die Ferne fixiert. Mit der Linken stoppt er mich und erstarrt an eben dieser Stelle zu einer pergamentenen Säule, die eins wird mit dem Busch. Langsam hebt der Jäger Pfeil und Bogen - Waffen, die mich eher an einen fünfjährigen Jungen als an einen phönizischen Krieger erinnern - und ein Vogel fällt mit durchbohrtem Herzen zu Boden. Natürlich war der Pfeil mit dem Saft ausgepresster Pfeilgiftkäfer-Larven vergiftet und hätte selbst eine Gazelle getötet. Jumanda stopft den Vogel in ein Netz, das er über dem Rücken trägt. Im gleichen Atemzug entdeckt er im Boden ein Pflänzchen und zieht mich erregt heran. Dann gräbt er mit den Händen im trockenen Sand und hält schon bald eine dicke Knolle in der Hand. Mit seinem kleinen Jagdmesser fängt er an, die Knolle zu raspeln. Er füllt seine Rechte mit dem Abrieb, wendet sein Gesicht himmelwärts, hebt nun die geballte Faust mit abgespreiztem Daumen über seinen Kopf und fängt an seine Faust zu pressen. Flüssigkeit rinnt über den nach unten gerichteten Daumen. Mit viel Geschick fängt Jumanda den Saft mit seinem Mund auf. Er bedeutet mir es ihm gleichzutun. Etwas ungeschickter als der ǃKung-Mann tropfe ich die leicht bitter schmeckende Flüssigkeit in meinen Mund. Der Durst vergeht und wir können die Wanderung, wie einst die vertriebenen Herero, gestärkt fortsetzen. Zuvor vergräbt Jumanda den Rest der Knolle nachhaltig im ockergelben Kalaharisand. Dort wächst sie weiter und wenn er wieder in der Gegend ist, kann er erneut seinen Durst stillen.

Immer wieder pflückt der Medizinmann Blätter, Blüten, Rindenreste und verstaut sie in seinem Netz. Als Jäger und Sammler lässt er nichts zurück, was er heute noch benutzen wird. Nicht alles dient als Nahrung. Manche Wurzeln und Kräuter entfalten heilsame oder halluzinogene Wirkungen, oder verbessern die Rezeptur des Pfeilgiftes.

Zurück am Dorfplatz bereitet ein junger Mann das Feuer. Durch schnelles Drehen eines Stocks zwischen den Händen erzeugt er Reibung auf einem darunterliegenden Holzbrett, das mit Zunder bestückt ist. Der Medizinmann tritt hinzu und unter lautstarken Äußerungen, die Götter um Hilfe bittend, übernimmt er. Schon bald beginnt die Konstruktion zu qualmen. Der Mann lässt den Stock fallen, hebt das Brettchen mit dem glühenden Zunder in seine Handmulde und grinst mich an: „Das Feuer ist schon da, jetzt muss es nur noch zum Leben erweckt werden!“ Nun beginnt er vorsichtig in den Zunder zu pusten. Das rote Glühen gewinnt an Stärke bis plötzlich die ersten Flammen aus dem Zunder schlagen. Vorsichtig schiebt der Mann das Feuer unter einen bereitstehenden Holzhaufen.

Inzwischen sind acht, neun Frauen zum Lagerfeuer gekommen, ihre Scham von Antilopenleder bedeckt. Sie weisen keine von Lust und Hingabe geformten Venusbrüste auf, sondern gravitationsgebeutelte funktionale Lappen, die die Nachgeborenen viel zu lange in der Wüste gesäugt haben. Sie klatschen in die Hände bis ein Rhythmus entsteht, stampfen mit den nackten Füßen in den warmen Sand. Der Tanz um das Feuer beginnt. Jumanda hat ein paar Kräuter aus seinem Beutel gezogen und drückt sie in ein kleines Holzgefäß, das er als Amulett um den Hals trägt. Dann steht er auf, geht beschwörend von Frau zu Frau. Der Tanz der Frauen wird eindringlicher. Schließlich hockt er sich ans Feuer greift mit Daumen und Zeigefinger flink in die Glut und tropft Feuer in sein Holzgefäß. Es beginnt zu Qualmen. Mit kräftigen Zügen inhaliert er die aufsteigenden Gase. Seine tiefen Atemzüge bewegen seine Bauchdecke wie den Blasebalg einer uralten Orgel. Plötzlich steht er zitternd am Feuer, fällt in Ekstase. Das Klatschen und Stampfen der Frauen nimmt dramatisch zu. Sie umtanzen ihren Medizinmann. Trance. Seine rotglühenden Augäpfel fallen nach hinten und die Verbindung zu llgauwasi, dem Geist der Toten, und zu prophetischen Träumen steht.

Doch wenn sich die Sān den realen Antilopenherden mit Pfeil und Bogen entgegenstellten, Beute machten, rieben sie die Wildhüter auf, nähmen ihnen ihre jahrtausendalte Lebensgrundlage. So wurden die San bereits aus dem Central Kalahari Game Reserve vertrieben, um den Tierbestand und Diamantenabbau nicht zu gefährden. Zu Bauern abgerichtet und in neugegründete Dörfer umgesiedelt oder zu Hirtendiensten bei Farmern angestellt, endet hier ihre 100.000jährige Geschichte. Entfremdet, abgerichtet, mit Drogen und Feuerwasser betäubt, mit AIDS konfrontiert.

In der folgenden Nacht parke ich den Toyota vor den Tsodilos, den flüsternden Felsen der Kalahari. Ich versuche im aufgeklappten Dachzelt zu schlafen. Die Luft steht in der heißen Nacht und die Schweißperlen rinnen zwischen Wachen und Träumen über meine Haut. Draußen ist es finster, der Mond noch nicht aufgegangen. Eine Moskitogaze schirmt meine Träume von der Außenwelt und plötzlich meine ich, durch eben diese Gaze die Umrisse einer Elefantenherde zu erspähen. Geisterhaft preschen die Kolosse zwischen den Akazien hindurch, die hier am Fuße der Götterberge stehen. Lautlos wie ein Traum an meinem Exkursionsauto vorbei. Zuvorderst eindeutig die Leitkuh, geheiratet und gefressen von Prishiboro, dem Helden der Sān. Dann geht der Mond auf und wie von Geisterhand angeknipst lärmen die Zikaden durch die aufgehellte Nacht, fegen jeden somnambulen Zustand hinfort. Von Elefanten ist weit und breit kein Schimmer geblieben. Dafür ragt der Hügel, der den Menschen Siedlungspunkt seit der Steinzeit war, wie eine Pyramide hoch in den Himmel. Seit 30.000 Jahren sind Die Berge der Götter den Sān heilig, genauso wie den Aborigines ihr Uluṟu. Eine Quelle zwischen den vier Hügelspitzen ermöglichte dauerhaftes Leben über 100.000 Jahre lang. Wie der Waterberg eine Oase im gelblich-braunen Sand unter der sengenden Sonne der flirrenden Kalahari.

Von einem fast zahnlosen Sān lasse ich mich durch die Tsodilos führen. Er wohnt im benachbarten Dorf und verdient sich ein paar Heller, wenn er die wenigen Touristen, die hier vorbeischauen, über die Götterberge führt. Er klettert voraus und lacht mir entgegen. Sein letzter Vorderzahn reflektiert die Sonne und weist den Weg in die Galerie der Urzeit, die Bibliothek der Sān. Eine eigene Schrift hat es nie gegeben. Von Überhängen geschützt zeugen riesige Wandmalereien, die bis zu 10.000 Jahre alt sein sollen, von der Kultur der Buschleute. Farbe aus Blut und Schlamm für große Tiere, denen man Respekt zeugte, die man als Nahrung brauchte. Jagdszenen, die mit Penistänzen eingeleitet werden. Initiationsplätze vor den Bildern der Ahnen.

Heute buddeln am Fuß der Tsodilos nicht Archäologen nach 100.000 Jahren Menschheitsgeschichte, sondern Minenarbeiter britischer und kanadischer Unternehmen nach Öl und Großdiamanten. Millionenobjekte für die Gier der Superreichen, den Tiefen des Erdreichs abgerungen und in die Tiefen der sichersten Tresore zurück gezwungen. Die Sān jedoch entnahmen der Natur nur das Nötigste, das, was sie tatsächlich zum Überleben brauchten. Der Beute auf den Fersen kann die Jagd mit Pfeil und Bogen Tage dauern. Eine Homöostase mit der Natur, die die Sān 100.000 Jahre durchhielten. An den Tsodilos habe ich die Chance zwischen den Klicklauten der Khoisan-Sprache meines Führers, den noch nicht vergessenen Teilen der Geschichte der Sān zu lauschen. Eine Welt im Einklang mit der Natur, mit den Ahnen, mit klaren Aufgaben für Mann und Frau und der gegenseitigen Hilfe, die in dieser kargen Welt unbedingt für das Überleben der Gruppe nötig ist.

In diese Welt der Buschleute drangen seit 1750 Bantustämme (u.a. Herero) von Norden und ab 1894 deutsche Siedler von Süden kommend ein, trieben die Sān immer tiefer in das Sandveld und schlugen sich um Ressourcen, Wasser für ihre Viehhaltung. Im Zuge des Herero-Aufstandes drängte die Deutsche Schutztruppe die Herero, Hirtennomaden, die große Teile ihres Viehs durch eine Rinderpest verloren hatten, in das Omaheke-Sandveld Richtung Botswana, verwehrten ihnen den Zugang zu Brunnen. Doch auch die Sān lebten abertausende Jahre nur von dem, was sie dem Sandveld abringen konnten.

Mit besten Grüßen

Marcus Schütz, promovierter Biologe, Heilpraktiker und Autor

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