Westdeutsche Allgemeine Zeitung

WAZ: Jürgen Rüttgers wie Johannes Rau - Kopie statt Original - Leitartikel von Norbert Robers

07.11.2008 – 19:07

Essen (ots)

Das Letzte, was man dem NRW-Ministerpräsidenten
Jürgen Rüttgers absprechen kann, ist der Sinn für politische Taktik. 
Der Sohn eines Elektromeisters ist seit 38 Jahren Mitglied der CDU, 
er kennt alle Partei- und Funktionsebenen bis hin zum Amt des 
Bundesministers. Rüttgers ist uneingeschänkt kampagnenfähig. Er weiß 
zu polarisieren und zu provozieren.
Was viele nicht wissen: Jürgen Rüttgers hat Nordrhein-Westfalen 
als Wohnort nie verlassen. Er kennt das Land, und er weiß genau: Wer 
in Düsseldorf erfolgreich regieren will, der muss ein ausgeprägtes 
Gespür für Redlichkeit und Gerechtigkeit, für soziale Themen 
überhaupt haben. Vielschwätzer, Verbalrevolutionäre oder Schönredner 
kommen an Rhein und Ruhr nicht gut an.
Rüttgers hat durchaus seinen eigenen Stil entwickelt: präsidial, 
gerne auch hemdsärmelig, reformorientiert, im Kabinett auf einen 
Konsens fokussiert. Nicht, dass ihm nicht auch die Landesvaterrolle 
liegen würde. Aber Rüttgers weiß, dass einer seiner Vorgänger in 
dieser Attitüde unübertroffen ist: Johannes Rau.
Rüttgers' Führungsstil ähnelt durchaus dem von Johannes Rau. Aber
der Christdemokrat setzt noch einen drauf. Demonstrativ weist er 
darauf hin, dass er sich um die angeblich von der SPD verlasssenen 
"Rau-Wähler" bemühen will - um jene Bürger also, die sich vom 
Regierungschef vor allem in schwierigen Zeiten gedanklich in den Arm 
genommen fühlen wollen.
Diese Strategie, und natürlich ist die Fischerei im 
SPD-Wählerlager Rüttgers' entscheidendes Motiv, hat ihre Schwächen. 
Rau steht eben nicht nur für Solidarität und Menschlichkeit, sondern 
auch für eine über viele Jahre gepflegte Politik, die sich nicht 
unbedingt durch ein Bekenntnis zum Strukturwandel, zur Entschuldung 
des Landes oder durch Reformeifer ausgezeichnet hat.
Jürgen Rüttgers bemüht sich darum, die Rosinen aus Johannes Raus 
Vita und Leistung herauszupicken. Gleichzeitig verantwortet er eine 
Bildungs-, Privatisierungs- und in Teilen eine Sozialpolitik, die 
Johannes Rau so nie mitgetragen hätte.
Seine Rau(b)-Kopie ist auch in der Union nicht unumstritten. 
Getrieben von ihren Landesvorsitzenden, hat die 
nordrhein-westfälische CDU-Basis jahrelang Rau bekämpft - um jetzt 
miterleben zu müssen, dass Rüttgers den Rau gibt. Genüsslich verweist
die SPD auf einen weiteren Unterschied: Der S-Politiker Rau war 
deutlich bibelfester als der C-Politiker Rüttgers.

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