Wie Gerüchte Revolutionen auslösen können
Gerüchte können Geschichte schreiben: Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Elke Dubbels von der Universität Osnabrück erklärt, wie unsichere Informationen politische Dynamiken entfalten und wie sie sich von Fake News und Klatsch und Tratsch unterscheiden.
Wie Gerüchte Revolutionen auslösen können
Uni Osnabrück: Prof. Dr. Elke Dubbels über die politische Bedeutung von Gerüchten
Seit dem 1. Oktober besetzt Prof. Dr. Elke Dubbels die Professur „Neuere und Neueste Deutsche Literatur“ an der Uni Osnabrück. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt neben der Literatur vom 17. bis 21. Jahrhundert auch die Gerüchteforschung. Ein Gespräch über die Bedeutung von Gerüchten, den Unterschied zu Klatsch und Tratsch und Fake News.
Frau Prof. Dubbels, beschäftigen Sie sich wissenschaftlich mit Klatsch?
Nein, ich untersuche, wie Gerüchtekommunikation in Dramentexten dargestellt wird und in welchem Zusammenhang diese mit der Medien- und Öffentlichkeitsgeschichte der Zeit steht. Aber Klatsch und Gerüchte sind miteinander verwandt. Man könnte sagen: Klatsch ist die thematisch eingeschränkte Form eines Gerüchts und stark auf einzelne Personen und Beziehungen sowie persönliche Details bezogen. Gerüchte sind thematisch entgrenzt und sprechen daher potentiell einen größeren Personenkreis an; sie können auch eine vielfältige politische Dimension haben.
Nennen Sie doch einmal ein Beispiel für ein Gerücht in der Literatur.
Ein gutes Beispiel findet sich in Kleists „Robert Guiskard“ aus dem frühen 19. Jahrhundert. Hier kursiert das Gerücht, dass der Herrscher an der Pest erkrankt sein soll. Diese Nachricht verbreitet sich unter seinen Truppen während einer Belagerung von Konstantinopel und führt zu Unruhe und einer latenten Aufbruchsstimmung. Mit einem mittelalterlichen Stoff hat Kleist im Grunde die Ereignisse der Französischen Revolution verarbeitet.
Spielten Gerüchte in der Zeit der Französischen Revolution denn eine große Rolle?
Ja, sehr. Generell sind Krisenzeiten besonders anfällig für die Verbreitung von Gerüchten. Historiker sagen oft: „Gerüchte machen Geschichte“.
…so wie am 9. November 1989, als das Gerücht herumging, die Mauer sei offen?
Zum Beispiel. Kleist war geprägt vom Sommer 1789. Damals, zu Beginn der Französischen Revolution, sprach man von der „Grande Peur“, der großen Angst, die unter der Landbevölkerung herrschte. Ausgelöst wurde sie durch Gerüchte über eine aristokratische Verschwörung. Die Folge waren Aufstände, die die ganze Dynamik der Revolution grundlegend veränderten. Auch schon zuvor, als vor den Toren von Paris Truppen zusammengezogen worden waren, hieß es unter der Bevölkerung: „Es wird einen Angriff auf Paris geben!“ Dabei gab es laut Historikern zu dem Zeitpunkt noch gar keinen festen Plan. Doch die Gerüchte lösten eine Gegenreaktion aus – und es kam zum sogenannten Sturm auf die Bastille.
Welche politische Bedeutung Gerüchte haben können, zeigt sich auch an gegenwärtigen Diskussionen. Stichwort: Fake News.
Das ist richtig, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Gerüchten und Fake News: Letztere sind bewusst in Umlauf gesetzte falsche Informationen, die als Nachrichten präsentiert werden, während Gerüchte unsichere Informationen sind. Fake News können jedoch Gerüchte erzeugen und umgekehrt. Sie sind also miteinander verbunden.
Gibt es einen bestimmten Personenkreis, der in der Literatur Gerüchte verbreitet?
Oft ist es der „Intrigant“ – jemand, der indirekt vorgeht, aus dem Schatten agiert und versucht, andere zu manipulieren. Der Intrigant nutzt Gerüchte, um Verantwortung von sich zu weisen, indem er anonym spricht: „Man sagt, dass…“
Können Sie einen berühmten Intriganten benennen?
Lessings „Emilia Galotti“ ist ein gutes Beispiel. Der Höfling des Prinzen, Marinelli, verbreitet aktiv ein erfundenes Gerücht über Emilias Verwicklung in ein Verbrechen, um ihre Gefangenschaft zu rechtfertigen und seine Begierden zu verfolgen. Dies ist ein klares Beispiel dafür, wie ein Gerücht zur Manipulation einer Situation eingesetzt wird.
Sie konzentrieren sich bei Ihrer Forschung zu Gerüchten auf Texte aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Können wir dennoch einmal den Bogen zur Gegenwart schlagen?
Natürlich. Ein recht aktuelles Stück, in dem Gerüchte eine zentrale Rolle spielen, ist „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" von Elfriede Jelinek. Hier geht es um die Pandemie und die vielen Falschmeldungen, Gerüchte und Verschwörungstheorien, die während des ersten Lockdowns verbreitet wurden. Die Corona-Zeit war quasi eine Hochphase des Gerüchts. Moderne Medien mögen die Verbreitung von Gerüchten in den vergangenen Jahren befeuert haben. Doch wenn man sich einmal mit der Geschichte des Gerüchts befasst, merkt man schnell: Bestimmte Mechanismen sind erstaunlich stabil geblieben.
Zur Person:
Nach Stationen in Bonn, Berlin und Würzburg hat Elke Dubbels seit dem 1. Oktober 2025 die Professur für „Neuere und Neueste Deutsche Literatur“ an der Universität Osnabrück inne. Ihre Habilitationsschrift ist dem Thema „Politik der Gerüchte. Dramen von Gryphius bis Kleist im medien- und öffentlichkeitsgeschichtlichen Kontext“ gewidmet.
Zu der Reihe:
In der Interviewreihe „UOS fragt nach“ beziehen Expertinnen und Experten der Uni Osnabrück im Gespräch mit der Pressestelle Stellung zu aktuellen, alltäglichen und vieldiskutierten Themen. Von Politik bis Pädagogik, von Kunst bis KI – UOS fragt nach.
Weitere Informationen für die Medien:
Prof. Dr. Elke Dubbels
Institut für Germanistik
E-Mail: elke.dubbels@uni-osnabrueck.de
Cornelia Achenbach, Universität Osnabrück Kommunikation und Marketing / Redakteurin Neuer Graben 29/Schloss, 49074 Osnabrück
E-Mail: cornelia.achenbach@uni-osnabrueck.de
Weiteres Material zum Download Dokument: 02_UOS_fragt_nach_Dubbels_.docx