Westfalen-Blatt: Kommentar zum Verfall der Handschrift
Bielefeld (ots)
Ich schreibe, also bin ich. Descartes im 17. Jahrhundert konnte das schon. Der Steinzeitjäger noch nicht, denn vor das Schreiben hat das Leben die Grundschule gesetzt.
Das Leben? Das ist die biologische Existenz des Menschen, die evolutionären Gesetzen gehorcht, unbeschadet der Tatsache, dass sich heute, sobald einer nur »Digitalisierung« sagt, bei allzu vielen Pädagogen der Verstand zugunsten von Visionen abmeldet. Das hat böse Folgen - böse nicht nur für die Gesamtgesellschaft, sondern vor allem für die betroffenen Kinder: Immer mehr Grundschüler verlassen die vierte Klasse, ohne eine lesbare Handschrift entwickelt zu haben.
Recht verstanden: Es geht hier nicht um korrekte Orthographie und Zeichensetzung. Das ist ein eigenes (ungelöstes) Problem. Vielmehr beklagen die Lehrer, dass beim Schreiben immer öfter nur schwer erkennbare Buchstaben entstehen, die ungelenk zu Clustern zusammengebaut werden, die nur mit gutem Willen als Wörter zu identifizieren sind. Mit dem betrüblichen Ergebnis, dass der fertige Text, entgegen seiner eigentlichen Bestimmung, nicht zur Informationsquelle taugt.
Wer ist schuld? Die Tastengeräte, die schon die Welt der ganz jungen Menschen fluten? Okay: Internationale Studien beweisen jenseits jeden Zweifels, dass, wer Buchstaben tippt, statt sie zu »malen«, niemals die motorischen Fähigkeiten entwickelt, die notwendig sind, um eine flüssige, lesbare Handschrift zu entwickeln.
Schuld ist wieder die vermaledeite Evolution: Jede komplexe Handbewegung will vom Gehirn zielgenau gesteuert werden - diese Führungsfunktion aber übernimmt das Gehirn nur nach stetiger Übung. Durch Übung im Buchstabenmalen. Durch Buchstabenmalen in jungen Jahren. Denn es war die Evolution des Homo sapiens, die die Binse erfunden hat: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ein Zellhaufen unter der Schädeldecke, der nur Befehle kennt wie: Zeigefinger ausstrecken! Auf Taste links oben hacken!, leistet ein Leben lang weniger - sichtbar weniger - als ein Gehirn, das der schreibenden Hand den anspruchsvollen, vielfach geschwungenen Kurs des Schreibstifts durch, zum Beispiel, den alten Kleinbuchstaben a weist.
Alter Kleinbuchstabe a? Da sind wir beim Kern des Problems. Die Sauklaue ist ja keine Begleiterscheinung des Smartphone- und Tablet-Zeitalters. Der Niedergang des schönen Schreibens begann bereits, als die Lateinische Ausgangsschrift mit ihren verbundenen Buchstaben 1972 zuerst von der Vereinfachten Ausgangsschrift und diese 2011 von der »Grundschrift« verdrängt wurde. Die Bezeichnung ist natürlich reine Augenwischerei: Es handelt sich in Wahrheit um die Druckschrift, konzipiert, wie der Name sagt, für gedruckte Texte, keineswegs zum Schreiben.
Hänschen, der in vier mit Druckschrift vertändelten Grundschuljahren zu Hans herangewachsen ist, kann nicht leserlich schreiben. Nicht dass er zu faul oder gar zu dumm dazu wäre. Nein: Sein von Ideologen an der Entfaltung gehindertes Gehirn ist gar nicht fähig, die für leserliches Schreiben erforderliche Motorik zu steuern.
Trotzdem, und das ist die niederschmetternde Pointe der Misere, verlangt der Staat von seinen jungen Bürgern beim Übertritt in die fünfte Klasse eine leserliche Handschrift. So steht es in den Bildungsstandards für die Grundschule, die seit 2004 bundesweit gelten.
Echtes Schreiben mit der Hand hilft beim Erwerb der korrekten Orthographie und bei der Lesefähigkeit, bei der Ausbildung von Textverständnis und - letztlich - bei schulischen Leistungen insgesamt. Diesen Komplex nennt man übrigens Bildung. Das Beispiel Schreibunterricht aber zeigt: Der Staat, dem Bildung angeblich über alles geht, versagt schon bei den I-Männchen.
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