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Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Türkei

Bielefeld (ots)

Am vorletzten Wochenende sah alles noch nach einem Happening aus. Vor einer U-Bahn-Station in Ankara hatten sich 300 junge Leute zum öffentlichen Küssen verabredet. Aber bevor der Protest gegen, wie sie fanden, nervende Moralappelle begann, gab es schon Schläge. Erst von den Sittenwächtern der Regierungspartei AKP, dann von der vorgewarnten Polizei. Die landesweite Erhebung liberaler, meist politisch ungebundener Bürger der formal laizistischen Republik Türkei sieben Tage später ist der Kulminations-punkt seit langem schwelender Ängste vor einer immer deutlicher spürbaren Islamisierung. Die Aktivisten vom Gezi-Park in Istanbul, das Bildungsbürgertum aller großen Städte, selbst die Auslandstürken in Bielefeld und Paderborn treibt es in diesen Tagen auf die Straße. Sie wollen den Staat nicht weiter in das Privatleben seiner Bürger reinregieren lassen. Ob Selbstzensur eingeschüchterter Medien, U-Bahn-Durchsagen »sich der Moral entsprechend zu verhalten« oder Alkoholverbote: Alle spüren, die Knute des Kalifen kommt näher. Aus gegenseitig geübter Toleranz ist die Vormacht der Religiösen über die weltoffenen Milieus geworden. Anders als im scheiternden Arabischen Frühling geht es bei den Nacht für Nacht anhaltenden Auseinandersetzungen mit der Polizei zwar nicht gegen einen korrupten Autokraten. Aber Ministerpräsident Recep Tayyip Er-dogan geriert sich derzeit als ein nicht weniger selbstgerechter Pharao beziehungsweise Sultan. Mit wüsten Beschimpfungen der Demonstranten als Banditen und Agenten hat Erdogan zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Weder die Entschuldigung seines Stellvertreters noch die Kritik von Staatspräsident Abdullah Gül können kitten, was der Ministerpräsident vor seiner kalt lächelnden Abreise nach Marokko am Montag an Porzellan zerschlagen hat. Der Einbruch der türkischen Börse, die Schwäche der Lira und der Streikaufruf im öffentlichen Dienst sollten zeigen, was auf dem Spiel steht. Ob sich Erdogan davon beeindrucken lässt, bleibt abzuwarten. Er setzt darauf, dass er seinem Land einen beispiellosen Aufschwung gebracht hat. Zudem stützt er sich auf eine legitime absolute Mehrheit im Parlament. Dennoch muss Erdogan endlich Maß und Mitte finden. Freie Geister wie der große Pianist Fazil Say wissen, dass ihr gesellschaftlicher Einfluss gering bleiben wird. Viele Fortschrittliche denken über Emigration nach - ein Weg, den Teile des Volkes schon immer gewählt haben. Auslandsgemeinden wie Berlin-Kreuzberg zeugen weltweit von dieser Absetzbewegung wahlweise aus wirtschaftlichen, sozialen oder auch politischen Erwägungen. Auch diesmal steht zu befürchten, dass ein Sultan siegt und die anderen kuschen oder kaltgestellt werden.

Pressekontakt:

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Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

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