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Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Amerika und der Fall Trayvon Lizenz zum Töten DIRK HAUTKAPP, WASHINGTON

Bielefeld (ots)

Es gehört zu den gespenstischen Ritualen in einem Land, das Europa zunehmend fremder wird. Nach jedem Schulhofmassaker, nach jeder Bluttat, die es landesweit länger als einen Tag in die Abendnachrichten der großen Fernsehsender schafft, kaufen Amerikaner das nächstbeste Waffengeschäft leer. Aus Angst, Politiker könnten ihnen per Gesetz ihre Schießeisen wegnehmen. So war es, als 2008 der erste schwarze Präsident ins Weiße Haus gewählt wurde. So wird es jetzt sein, nachdem ein 17-Jähriger, ebenfalls schwarz, in Florida auf dem Nachhauseweg durch eine eingezäunte Wohnanlage einem zur Selbstjustiz entschlossenen weißen Wachmann zum Opfer gefallen ist. Dieser pathologische Reflex, im richtigen Augenblick das Falsche zu tun, war zuletzt zu beobachten, als vor einem Jahr ein Geisteskranker in Arizona sechs Menschen erschoss und die Kongressabgeordnete Gabriele Giffords lebensgefährlich verletzte. An ihrer herzzerreißenden Genesung richtete sich das Land über Monate auf und weinte Tränen der Rührung. Vor den Ursachen für ihr Martyrium - grotesk lasche Waffengesetze - verschließt es bis heute die Augen. Darum das verdunkelnde statt erhellende Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Medien, Politik und Polizeibehörden, seit Trayvon Martin tot ist. Und George Zimmermann, der Schütze, noch immer auf freiem Fuß. War es Rassismus? Unterschwellig gewiss. Haben Polizei und Staatsanwaltschaft versagt? Aber ja. Leistet die durch abgeschlossene Wohnkomplexe ("gated communities") wachsende Bunkermentalität der Stigmatisierung gesellschaftlicher Minderheiten Vorschub? Und ob. Sind Schwarze latent noch immer Menschen zweiter Klasse, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht? Alle Zahlen von Festnahmen, Verurteilungen und Gefängnisbelegungen belegen es. Trotzdem: Solche Fragen mit Nebenkriegsschauplatz-Charakter bringen das amerikanische Selbstgespräch in der Hauptsache nicht weiter. Trayvon Martin starb, weil die Allgegenwart von Waffen im Alltag bedrückend ist. Trayvon Martin starb, weil perverse Erst-schießen- dann-fragen-Gesetze existieren, die dem Individuum in über 20 Bundesstaaten juristische Immunität geben, wenn es sich subjektiv bedroht fühlt und von der Lizenz zum Töten Gebrauch macht. Amerika verliert sich als Rechtsstaat. Über diesen Irrsinn müsste gestritten werden. Auch meinungsstarke Leuchtturm-Medien tun dies nur mit spitzen Fingern. Amerika und seine Politiker fürchten die Debatte, die bei 13.000 Schusswaffentoten und 50.000 Schussverletzten im Jahr überfällig ist, mehr als den islamistischen Terrorismus: Wie kann man verhindern, dass 300 Millionen Pistolen, Revolver und Gewehre in Privathaushalten immer wieder finalen Schaden anrichten? Der Verweis, dass die Freiheit zur Notwehr der kulturelle Gründungsmythos Amerikas ist, entwertet sich als ein von rücksichtslosen Lobbygruppen genährter Fluch einer Industrie, die im Jahr fast vier Milliarden Dollar umsetzt.

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