Neue Westfälische: KOMMENTAR Koalitionswechsel Der Vertrag trifft die Kleinen CARSTEN HEIL
Bielefeld (ots)
Wenn sich zwei politische Parteien mit ihren
unterschiedlichen Programmen und Vorstellungen zusammenraufen, um
gemeinsam eine neue Bundesregierung zu gründen, ist das ein
historischer Moment. Für die aktuelle Situation gilt das umso mehr,
als es sich um den Abschluss eines Kapitels deutscher Geschichte
handelt.
Immerhin elf Jahre lang hat die SPD die Geschicke des Landes
maßgeblich bestimmt: Zunächst von 1998 bis 2002 waren die
Regierungsverantwortlichen geradezu beseelt von ihrem rot-grünen
Projekt. Die Reformfaulheit der Vorgänger-Regierung Kohl, eigene
Fehler, die harte wirtschaftliche Realität, die katastrophale
Situation am Arbeitsmarkt und extremer außenpolitischer Druck
(Kosovo, Terror, Afghanistan) weckten das Kabinett Schröder/Fischer
aus allen naiven Träumen ("Regieren macht Spaß").
Im zweiten Anlauf bis 2005 waren es die SPD und die Grünen, die mit
den bis heute ungeliebten Agenda-2010-Reformen Deutschland
zukunftsfest gemacht haben. Und nur Rot-Grün konnte das. Wäre die
Union im Jahr 2003 an der Macht gewesen und auf die Idee der Hartz I
bis IV Reformen gekommen, sie hätte den geballten gemeinsamen Zorn
von SPD und Gewerkschaften gespürt. Die Reformen wären wohl gar nicht
durchsetzbar gewesen.
Noch ist unsicher, ob die Sozialdemokraten unter den Spätfolgen der
Verantwortung für die Agenda-Politik nicht doch noch zusammenbrechen.
Die Mehrheit der Wählerschaft wollte die Hartz-Zumutungen nicht.
Schon seit 2004 werden die Genossen bei fast jeder überregionalen
Wahl abgestraft. 2005 rettete sie bei der Bundestagswahl nur die
Arithmetik vor dem kompletten Machtverlust.
Jetzt schicken sich nach zügigen Koalitionsverhandlungen CDU und FDP
an, die Macht zu übernehmen. Längst ist nicht sicher, ob die neuen
Mächtigen tatsächlich alles umsetzen, was sie auf 124 Seiten
vereinbart haben. Genug Hintertürchen haben sie sich offen gelassen.
Die Richtung aber ist klar. Sie unterscheidet sich drastisch von den
vergangenen elf Jahren: Wenn Steuern gesenkt werden (wie jetzt von
Schwarz-Gelb angekündigt), Sozialabgaben im Gegenzug erhöht (wie
angedeutet), dann trifft das eindeutig die kleinen und mittleren
Einkommen. Steuern zahlen viele Kleinverdiener gar nicht,
Krankenkassen-, Pflegeversicherungs-,
Arbeitslosenversicherungsbeiträge aber sehr wohl. Diesen Abgaben
können sich Besserverdienende, Selbstständige und Beamte entziehen.
Andere Beschlüsse wie die Erhöhung des Kinderfreibetrages zielen in
die gleiche Richtung: die obere Hälfte der Bevölkerung wird
gepäppelt, die untere vernachlässigt. Dass das Kindergeld um 20 Euro
erhöht wird, hilft wenig.
Das alles ist natürlich kein offizielles Projekt und es wird immer
wieder Wohltaten für die kleinen Leute geben, weil Schwarz-Gelb nicht
als Regierung der sozialen Kälte dastehen will. Aber die große
Richtung ist klar.Pressekontakt:
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Jörg Rinne
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