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Mittelbayerische Zeitung: Das Märchen vom Paradies
Allzu oft redet die Politik die Verhältnisse schön. Es gibt aber Beispiele, wie die Teilhabe am Wohlstand in einem sogenannten reichen Land beschnitten wird.

Regensburg (ots)

Bayern sei so etwas wie die Vorstufe zum Paradies, pflegt der bald scheidende Ministerpräsident Horst Seehofer zu sagen. Er will damit die Leistungen seiner Regierung in den vergangenen neun Jahren hervorheben. Der Freistaat erfreue sich bester Wirtschaftsdaten, die Arbeitslosigkeit sei sehr niedrig, die Schulden der öffentlichen Hand gering. Von seinem designierten Nachfolger Markus Söder waren jüngst ähnliche Worte zu hören. Warum nur hat dann die Regierungspartei CSU in Bayern bei der Bundestagswahl im September so schlecht abgeschnitten? Am Ende vielleicht, weil sehr viele Bürger beim Thema "Vorstufe zum Paradies" eine ganz andere Meinung vertreten? Es gibt jede Menge Menschen, bei denen blanke Wut aufsteigt, wenn sie wieder einmal die Bilanz-Euphorie der verantwortlichen Politik hören. Das ist in Bayern so, das ist in ganz Deutschland so. Mehr als jemals zuvor nämlich haben heute zwar einen Job, aber die Zahl der Vollzeitstellen geht immer weiter zurück, sie liegt sogar niedriger als noch zur Jahrtausendwende. Teilzeit-Jobs und prekäre Beschäftigungen nehmen dagegen stark zu. Vor allem Frauen sind davon betroffen. Die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen, die mehr als 20 Wochenstunden arbeiten, hat sich in den vergangenen Jahren fast verdoppelt. Wissenschaftler der Freien Universität Berlin haben zudem herausgefunden, dass heute 25- bis 29-jährige Arbeitnehmer im Vergleich zu denjenigen aus dem Jahr 1990 schlechter gestellt sind. Damals verfügten junge Arbeitnehmer in etwa über das deutsche Durchschnittseinkommen, dieser Tage haben sie ein Viertel weniger als der Durchschnitt. Oder nehmen wir das deutsche Rentenniveau: Nach der aktuellen Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt es deutlich unter dem Schnitt vieler Industriestaaten. Künftige deutsche Rentner können im Schnitt nur 51 Prozent des derzeitigen durchschnittlichen Nettoeinkommens erwarten. Im OECD-Durchschnitt liegt das Rentenniveau bei 63 Prozent. Das Risiko für Altersarmut ist gerade für Frauen besonders hoch. Die OECD-Experten führen das auch auf die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen zurück, die in Deutschland über dem Durchschnitt anderer Länder liegt. Das sind nur einige wenige Beispiele, wie die Teilhabe am Wohlstand in einem sogenannten reichen Land beschnitten wird. Kein Wunder also, wenn die ständige Predigt von paradiesischen Verhältnissen bei großen Teilen der Bevölkerung Unmut hervorruft und die gesellschaftliche wie politische Mitte zu bröseln beginnt. Kommt weitere Verunsicherung hinzu, wie durch die Flüchtlingskrise Ende 2016 im Innern oder geopolitische Beben beispielsweise durch einen US-Präsidenten wie Donald Trump, orientieren sich immer mehr von der Mitte zu den Rändern. Das macht dann einen guten Teil des Erfolgs etwa einer AfD aus. Diesem sollte man in einer demokratischen Partei eben nicht mit einem "Rechtsruck" begegnen, sondern mit der ehrlichen Auseinandersetzung mit den Milieus, in denen nicht alles besser, sondern alles schlechter wird. Die Schere zwischen Arm und Reich bleibt in Deutschland ja trotz einer guten Konjunktur weiter ziemlich offen. Besserung ist allen mehrgleisigen Bildungsmöglichkeiten zum Trotz so schnell nicht in Sicht. Die Stabilität der Demokratie hierzulande ist durchaus in Gefahr. Aktuell tun sich die Parteien mit der Regierungsbildung schwer. Auch das ist eine Folge der Unzufriedenheit vieler mit ihrer jeweiligen Lebenssituation und dem daraus folgenden Wahlverhalten. Dies wieder zu ändern wird nicht gelingen, indem reflexartig die Vorstufe zum Paradies beschworen wird. An Weihnachten wäre etwas Zeit, über die Realität zu reflektieren.

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