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EKD - Evangelische Kirche in Deutschland

Existenz von Atomwaffen ist untragbares Risiko
Wolfgang Huber zum Tag von Hiroshima

Hannover (ots)

In der Atombombe, die am 6. August 1945 auf
Hiroshima abgeworfen wurde, scheine "alle Bosheit, die menschliche
Vernichtungswut sich ausdenken mag" vereinigt zu sein, so der
Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
Bischof Wolfgang Huber, in einer Ansprache zum Tag von Hiroshima. Die
Menschheit beruhige sich mit dem Gedanken, dass Atombomben seit
Hiroshima nie wieder eingesetzt wurden. "Aber das Risiko, dass diese
Waffen versehentlich gezündet werden, besteht; ja, es ist untragbar
hoch."
Die Zahlen der nuklearen Sprengköpfe weltweit sprächen für sich,
erklärte Huber. Es gebe keinen zureichenden Grund, nur über die
Atomwaffen Nordkoreas oder Pakistans zu reden: "Wer deren
Verfügungsgewalt über Atomwaffen verhindern oder beenden will, muss
auch selbst zu ihrem Abbau bereit sein." Noch immer bestehe die
Nuklearpolitik des Kalten Krieges fort, die UN-Konferenz zur
Überprüfung und Verbesserung des Atomwaffensperrvertrages ist im Mai
2005 gescheitert. "Noch immer kann die atomare Vernichtung vom
Handeln weniger, ja von der Entscheidung - oder richtiger:
Fehlentscheidung - eines Einzelnen abhängen."
Der Ratsvorsitzende rief dazu auf, das Problem der Atomwaffen
wieder im Bewusstsein und im Gewissen der Öffentlichkeit zu
verankern: "Nur wenn die Dringlichkeit des Themas wahrgenommen wird,
lässt sich auf eine Änderung hoffen", nur dann behalte das Scheitern
des Atomwaffensperrvertrages nicht das letzte Wort. Es dürfe nicht
nur darüber nachgedacht werden, wie die Ursachen für einen
Atomwaffeneinsatz zu beseitigen seien. "Man muss auch die Möglichkeit
ihres Einsatzes beseitigen."
Mit Blick auf den deutschen Wunsch nach einem ständigen Sitz im
UN- Sicherheitsrat sagte Bischof Huber: "Wenn unser Land seine
Bereitschaft erklärt, im Rahmen der Vereinten Nationen eine
verstärkte Verantwortung wahrzunehmen, muss es dieser Verantwortung
auch im Blick auf das Vorhandensein von Atomwaffen und anderen
Massenvernichtungswaffen in unserer Welt klaren Ausdruck geben."
Hannover, 5. August 2005
Pressestelle der EKD
Silke Fauzi
Es folgt die Ansprache im Wortlaut:
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
ZWEI GENERATIONEN NACH DEM TAG VON HIROSHIMA
Ansprache am 6. August 2005 in Berlin
I. Unvergesslich ist mir ein Weg durch den Peace Park von
Hiroshima. Vier Jahrzehnte lag der Abwurf der ersten Atombombe
zurück. Bäume und Sträucher waren wieder gewachsen, wo die
Vernichtung getobt hatte. Aber ihre Spuren waren unübersehbar. Der
Name des Parks zeigte, worum es auch heute geht: Die Verantwortung
für den Frieden wahrzunehmen, die sich aus dem Atombombenabwurf von
Hiroshima und wenig später von Nagasaki ergibt. So wie in Hiroshima
der Peace Park diese Verpflichtung wach ruft, so muss eine
vergleichbare Verpflichtung überall zum Bewusstsein kommen, auch in
Deutschland. Wenn unser Land seine Bereitschaft erklärt, im Rahmen
der Vereinten Nationen eine verstärkte Verantwortung wahrzunehmen,
muss es dieser Verantwortung auch im Blick auf das Vorhandensein von
Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen in unserer Welt
klaren Ausdruck geben. Ganz gegen eine gängige Meinung ist das Thema
keineswegs überholt.
II. Der Autor, der mir in meiner Jugend die Schrecken des
Atombombenabwurfs unvergesslich vor Augen brachte, war der Wiener
Philosoph Günter Anders. In seinem Tagebuch aus Hiroshima von 1959
findet sich der Bericht eines Opfers: „Als ich zu mir kam, war ich
schlimm verbrannt. Und auch meine Frau war furchtbar zugerichtet. Wir
stiegen durch den Schutt. Dann stolperte meine Frau über etwas. Über
einen Mann. Wir erkannten ihn nicht. Und konnten nicht sehen, ob er
noch lebte oder schon tot war. Er aber erkannte uns. ‚Laßt mich,
Kinder’, flüsterte er, ‚flieht!’. Die Stimme war fremdartig, aber ich
wusste, dass es die Stimme meines Vaters war. Aber als ich ihn ansah,
da sagte ich mir, er ist es doch nicht. ‚Fort!’, rief er nun, ‚fort!
Sonst bleibt auch ihr liegen!’. Er ist es doch, dachte ich da, und
rannte und holte eine Scherbe voll Wasser. Als ich ihm aber das
Wasser einzuflößen versuchte, und als ich sah, wie er es wieder von
sich gab, da sagte ich wieder zu mir, Er ist es doch nicht. Und bekam
Angst. Und sprach zu meiner Frau: ‚Gehorchen wir!’, und zog sie
hinter mir her, und so verließen wir ihn und ließen ihn liegen. Auf
dem Wege haben wir noch viele andere liegen gesehen und liegen
lassen. Bei jedem habe ich gedacht: Es ist mein Vater.“ Günter Anders
berichtet auch über die Reaktionen derer, die diesen Bericht hörten:
„Wir alle benahmen uns auf völlig gleiche Weise. Wir alle hielten nun
unsere Köpfe gesenkt, nicht nur, weil unser Schmerz zu groß war, als
dass wir ihn zu zeigen gewagt hätten, sondern auch, weil unsere Scham
zu groß war: Unsere Scham darüber, Menschen zu sein; unsere Scham
darüber, dass Menschen Mitmenschen in Situationen zu bringen
vermögen, in denen menschlich zu handeln diesen nicht mehr möglich
ist.“ Wie sähe unsere Welt aus, wenn jeder Mensch diesen Bericht
kennen und sich die Scham zu eigen machen würde – diese Scham
darüber, ein Mensch zu sein.
III.
Die Geschichte der Kriegführung ist eine Geschichte der
Grausamkeiten. Aber nichts in dieser Geschichte ist den Bomben auf
Hiroshima und Nagasaki zu vergleichen. Die Zahl der Opfer einer
einzigen Bombe, die Nachwirkungen bei den Überlebenden, die
unkalkulierbaren Auswirkungen der Strahlung – alle Bosheit, die
menschliche Vernichtungswut sich ausdenken mag, scheint in dieser
Waffe vereinigt zu sein. „Nie wieder Hiroshima“ – so hieß deshalb
schon wenige Jahre später, wie der Theologe Ernst Wolf sagte, „der
beschwörende Ruf eines zutiefst erschrockenen Gewissens,
Selbstanklage des Menschen, der zu ahnen beginnt, was er angerichtet
hat und weiterhin anzurichten vermag.“ Seitdem kann niemand sich dem
Gedanken entziehen, dass eine solche Waffe wieder verwendet werden
könnte. Niemand kann der Frage ausweichen, ob es jemals wieder Zwecke
geben mag, um deretwillen ein solches Mittel eingesetzt wird. Dass
der Zweck nicht jedes Mittel heiligt, ist allen Generationen nach
Hiroshima ins Gewissen gebrannt.
An der Bombe von Hiroshima ist der Menschheit zum Bewusstsein
gekommen, dass sie sich durch Wissenschaft und Technik selbst die
Mittel aneignen kann, um das Leben auf dem Erdball zu vernichten. Der
Gedanke, dass der Mensch selbst über seine eigene Geschichte negativ
verfügen, nämlich dieser Geschichte selbst ein Ende machen kann, hat
einen Namen. Er heißt Hiroshima. Das klingt mit in der beschwörenden
Formel: „Nie wieder Hiroshima“.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat schon vor Jahrzehnten eine
ernüchternde Bilanz gezogen. Kein anderes Ereignis, so sagt er, hat
die Herstellung der Bombe durch die damalige Sowjetunion mehr
gefördert als das Ereignis von Hiroshima; denn dadurch wusste man,
„dass die Bombe faktisch funktioniert.“ Aus der Geschichte des
Wettrüstens in der Zeit des Kalten Krieges lässt sich dieses Ereignis
nicht wegdenken.
Und heute? In einem viel beachteten Warnruf hat Robert McNamara,
einst amerikanischer Verteidigungsminister, im Mai dieses Jahres vor
den Risiken der heute bestehenden Atomwaffenarsenale gewarnt und
diese Waffen – nicht als erster! – als unmoralisch, illegal,
militärisch nicht notwendig und auf furchterregende Weise gefährlich
bezeichnet. Wir beruhigen uns bei dem Gedanken, dass diese Waffen
seit Hiroshima nie eingesetzt wurden. Wir wiegen uns zusätzlich in
der Vorstellung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges jeder Grund für
den Einsatz solcher Waffen entfallen sei. Allenfalls kleinen Mächten,
die der „Achse des Bösen“ zugerechnet werden, trauen wir dergleichen
zu. Aber das Risiko, dass diese Waffen versehentlich gezündet werden,
besteht; ja, es ist untragbar hoch.
Die Zahlen sprechen für sich. Die USA besitzen derzeit etwa 4.500
strategische, offensiv einsetzbar nukleare Sprengköpfe. Davon können
2.000 innerhalb von fünfzehn Minuten eingesetzt werden. Jeder von
ihnen hat die zwanzigfache Sprengkraft der Bombe von Hiroshima.
Russland besitzt etwa 3.800 Nuklearwaffen, Großbritannien, Frankreich
und China jeweils zwischen 200 und 400, Indien und Pakistan unter
100. Nordkorea schließlich kann, so wird geschätzt, zwischen zwei und
acht Bomben herstellen. Dafür, nur über die Atomwaffen Nordkoreas
oder Pakistans zu reden, gibt es keinen zureichenden Grund. Wer deren
Verfügungsgewalt über Atomwaffen verhindern oder beenden will, muss
auch selbst zu ihrem Abbau bereit sein.
Eineinhalb Jahrzehnte, also eine halbe Generation nach dem Ende
des Kalten Krieges besteht die Nuklearpolitik aus dieser Zeit im
wesentlich fort. Die UN-Konferenz zur Überprüfung und Verbesserung
des Atomwaffensperrvertrags ist im Mai 2005 gescheitert. In einem
offenen Brief an den Präsidenten dieser Konferenz hat Tadatoshi
Akiba, der Bürgermeister von Hiroshima und Präsident der
„Bürgermeister für den Frieden“, seine tiefe Enttäuschung darüber
geäußert, dass die Vision einer vollständigen Abschaffung aller
nuklearen Waffenarsenale auf der Welt kein zureichendes Echo findet.
Noch immer kann die atomare Vernichtung vom Handeln weniger, ja von
der Entscheidung – oder richtiger: Fehlentscheidung – eines Einzelnen
abhängen.
Seit sechzig Jahren ist es dazu nicht gekommen, Gott sei Dank.
Eine Garantie für die Zukunft ergibt sich daraus nicht. Die Gefahr
lässt sich vielmehr nur dann bannen, wenn das Problem der Atomwaffen
wieder in das Gewissen vieler Menschen, ja in das Bewusstsein der
Massen vordringt. Nur wenn die Dringlichkeit des Themas wahrgenommen
wird, lässt sich auf eine Änderung hoffen. Nur dann behält das
Scheitern des Atomwaffensperrvertrags nicht das letzte Wort. Nur dann
werden auch die großen Atomwaffenbesitzer ihr Verhalten überprüfen –
und das nicht nur von den kleinen verlangen.
IV. Vor fünfzig Jahren hat der katholische Schriftsteller Reinhold
Schneider die Christen aufgerufen, an der Bewältigung dieser Frage
mitzuwirken. „Unsere Aufgabe wäre“, so sagte er damals, „dem
Unglauben der Macht den Glauben der Machtlosigkeit entgegenzusetzen.“
Man kann diese kühne Formulierung so übersetzen: Nicht die Steigerung
der Gewaltpotentiale, sondern die Bändigung der Gewalt ist der Weg
zum Frieden. So wird die Seligpreisung der Gewaltlosen zu einem
Element nüchterner Politik. Die Vorstellung, dass Atomwaffen seit dem
Ende des Kalten Kriegs ihre Gefährlichkeit verloren haben, ist durch
nichts gerechtfertigt. Man muss sich nicht nur dafür einsetzen, dass
mögliche Ursachen für ihren Einsatz überwunden werden. Man muss auch
die Möglichkeit ihres Einsatzes beseitigen. Das Gedenken an das Leid
von Hiroshima und Nagasaki verpflichtet uns dazu, dass wir dieser
Aufgabe nicht ausweichen, sondern sie uns zu eigen machen. Allein
dadurch werden wir der Erinnerung an die damaligen Opfer gerecht,
zwei Generationen nach dem Tag von Hiroshima.
Evangelische Kirche in Deutschland
Hans-Christof Vetter
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail:  christof.vetter@ekd.de

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