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Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Aus der Geschichte lernen Ritualisiertes Gedenken reicht nicht Stefan Brams

Bielefeld (ots)

In diesen Tagen gedenken wir des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Und werden mit einem kaum noch zu überbietenden Angebot von Ausstellungen, Büchern, Dokumentationen und Filmen an diesen Tag erinnert. Die historische Rückschau, das Gedenken und Erinnern scheinen Konjunktur zu haben - in diesem Land. Erinnern und Gedenken wird gerne damit gerechtfertigt, dass sich nur so etwas aus der Geschichte lernen lasse, auf dass sie sich nicht wiederhole. Der Philosoph George de Santayana wird in diesem Zusammenhang gerne zur Rechtfertigung herangezogen, hat er das Thema doch einst auf die einprägsame Formel gebracht: "Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Der Dramatiker Heiner Müller hingegen war da deutlich skeptischer. Er formulierte stattdessen: "Aus der Geschichte lernen heißt das Nichts lernen." Angesichts all der Kriege in der heutigen Welt, des Abschlachtens und Mordens, der zunehmenden Vernichtung unser natürlichen Ressourcen wirken all unsere Anstrengungen, uns an Jahrestagen unserer Geschichte zu vergegenwärtigen, in der Tat geradezu sinnlos, erscheint der Mensch einem doch zunehmend unfähig, aus dem Vergangenen Schlüsse für sein gegenwärtiges Handeln ziehen zu können. Sollten wir uns deshalb nicht lieber gleich der Zukunft zuwenden - und dem Blick zurück weniger Aufmerksamkeit schenken? Auch bei uns in der Redaktion wird des Öfteren darüber gestritten, wie viel Platz wir der Erinnerung und dem Gedenken einräumen sollen - am 29. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, am 9. November, dem Tag der Novemberrevolution, der Reichspogromnacht und des Falls der Mauer. Die Liste ließe sich um zahlreiche wichtige Gedenk- und Erinnerungstage ergänzen. Denn es gibt sie reichlich - und sie alle haben sicher ihre Berechtigung, um die Opfer nicht zu vergessen. Aber genau darin liegt auch die Crux der Gedenktage. Sie werden nur allzu oft ritualhaft begangen, verkommen zu Pflichtübungen der politischen Klasse und einiger Interessierter, rauschen aber ansonsten an uns und unserem immer hektischer gewordenen Leben vorbei. Volkhard Knigge, Direktor der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, hat vor einiger Zeit in einem Gespräch mit dieser Zeitung gerade vor der Ritualisierung von Gedenktagen gewarnt, dadurch würde zum Beispiel der Holocaust-Gedenktag nur verschleißen. Auch ihn zu überfrachten sei falsch, denn eigentlich müsse es darum gehen, die historische Auseinandersetzung nicht nur an Feiertagen zu betreiben. Recht hat er. Wir überfrachten Gedenktage, als hofften wir auf Absolution vor der Geschichte, wenn wir diese Tage nur intensiv genug zelebrieren. Aber um aus der Geschichte wirklich etwas zu lernen, müssen historische Themen zu Alltagswissen und nah an die Menschen herangerückt werden. Gedenken braucht daher vor allem eins: Wissen und eine didaktisch geschickte Wissensvermittlung. Darum sollte es auch uns Journalisten gehen, historische Hintergründe nicht nur an Gedenktagen zu vermitteln, sondern auch dann, wenn wir über aktuell aufkeimende Konflikte berichten. Denn Konflikte wie in der Ukraine zeigen: "Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen" (William Faulkner). Sie geht uns täglich an. Darum sollte es gehen. Vielleicht lernen wir dann doch noch etwas aus der Geschichte.

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