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Landeszeitung Lüneburg: "Handel nicht über Völkerrecht stellen"
Ukraine-Experte Dr. Michael Hamalij: Ohne Waffenlieferungen und Sanktionen ist Putin nicht zu stoppen

Lüneburg (ots)

Als Dr. Michael Hamalij 2012 die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine mitorganisierte, war er sich sicher, dass das Land seiner Eltern eine friedliche Zukunft in Europa vor sich hat. Jetzt fürchtet er in der ostukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk, dass der Westen die Ukraine dem Kreml als Kriegsbeute überlässt. Zwar habe Putins Eroberung der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine das Nationalgefühl der Ukraine gestärkt. Doch das reiche nicht, um Putin zu stoppen. "Wir brauchen Verteidigungswaffen und knallharte Sanktionen."

Offensive statt Feuerpause. Separatisten eroberten Debalzewo, OSZE-Beobachter kamen nicht an die Front. Hat der Friedensplan noch eine Chance?

Dr. Michael Hamalij: Wer das hier erlebt, kann nicht mehr ernsthaft von einem Friedensplan sprechen. Was man sieht, ist ein nicht enden wollender Strom von Soldaten und Waffen aus Russland, der die Ukraine destabilisieren soll. Hier findet kein Bürgerkrieg zwischen der katholischen West-Ukraine und dem orthodoxen Osten statt, wie über Jahre im Westen angenommen worden war. Auf Seiten der Separatisten kämpfen kaum noch Ukrainer. Das Gros sind Söldner aus Russland. Das Ziel ist klar: eine stabile und friedliche Koexistenz in der Ukraine wird in Moskau nicht gewünscht, der Weg Richtung Europa soll so verhindert werden.

Verschließt der Westen vor den Realitäten in der Ukraine die Augen?

Dr. Hamalij: In der Tat. Die zögerliche Haltung gegenüber Putins aggressiver Politik setzt sich leider weiter fort. Putin wurde viel zu lange als vermeintlich lupenreiner Demokrat behandelt, also mit Samthandschuhen angefasst. Erst langsam reift die Erkenntnis, dass sich Putin mit Worten nicht stoppen lässt. Am Ende läuft es auf einen neuen Kalten Krieg hinaus, was letztendlich jedoch zu klaren Verhältnissen führen könnte. Es sei denn, man gibt ein Land wie die Ukraine preis, das in die europäische Familie will und dafür bereits mehr als 5000 Menschenleben opferte.

Wie ist die Lage derjenigen, die aus dem Donbass vertrieben wurden?

Dr. Hamalij: Schätzungsweise ein Drittel der Menschen sind aus dem umkämpften Gebiet Richtung Russland geflohen, zwei Drittel in den friedlichen Teil der Ukraine. Eine kleine Minderheit ist in der Lage, sich Wohnungen zu mieten. Die Masse der Menschen ist mit einer Tasche oder einem Koffer und wenig Geld unterwegs. Für sie werden Wohnheime und ehemalige Pionierlager hergerichtet. So konnte bisher verhindert werden, dass die Menschen - wie in vielen anderen Krisengebieten - in Zelten hausen müssen. Nahe der Front ist die Lage dramatisch. Weil die Separatisten - obwohl ich diese Gruppe nicht mehr Separatisten, sondern eher von Russland unterstützte und gesteuerte Terroristen nennen würde - mittlerweile über Raketen mit einer Reichweite von bis zu 100 Kilometern verfügen, müssen die Zivilisten ständig Schutz in Kellern suchen. Die Zahl der Toten durch Artillerie- und Raketenbeschuss ist nicht zu schätzen.

Hat Kiew noch das Geld und die Möglichkeiten, den Flüchtlingsstrom zu bewältigen?

Dr. Hamalij: Die Zentralregierung schlingert am Rande der Zahlungsunfähigkeit, folglich können die unterfinanzierten Gemeinde- und Gebietsverwaltungen diese Herausforderungen kaum aus eigener Kraft bewältigen. Positiv ist aber zu bemerken, dass die Solidarität untereinander gewachsen ist, dass das Gefühl, einer Nation anzugehören, nahezu alle ergreift. Schon vor einem Jahr war hier allen klar, dass die Ukraine nicht in einen Bürgerkrieg stolpert, sondern von außen angegriffen wird. Verschließt sich Europa dieser Erkenntnis, verweigert es Geld und Waffen, sollte es sich zumindest die Frage stellen, wie weit die Truppen aus dem Osten noch marschieren können.

Noch eine Frage zu den Finanzen: Droht eine soziale Katastrophe, wenn Kiew künftig auch noch Sparvorgaben des IWF erfüllen muss?

Dr. Hamalij: Die Ukrainer leben schon seit mindestens zwei Jahren in der Krise - entsprechend gedrückt ist die Stimmung. Bei weiteren Einschnitten in die öffentlichen Haushalte würde sich diese natürlich massiv verschärfen. Gravierender wäre aber, wenn sich die Niederlage von Debalzewo in Mariupol wiederholen sollte. Es ist zu befürchten, dass der Kreml über die Eroberung dieser Stadt den Zugang im Südosten auf dem Landweg zur Halbinsel Krim sicherstellen will. Der zu erwartende Flüchtlingsstrom aus der Großstadt Mariupol würde die Situation dramatisch zuspitzen.

Der Kreml bestreitet vehement, unmittelbar in der Region militärisch engagiert zu sein. Was haben Sie für Informationen?

Dr. Hamalij: Wer heute noch glaubt, dass Separatisten aus dem Donbass so gut ausgebildet und so gut ausgerüstet sind, dass sie mal eben die ukrainische Armee aus der strategisch wichtigen Stadt Debalzewo vertreiben können, hat offenbar keine Geschichtsbücher und keine Studien von Strategie-Instituten gelesen. Ich weiß auch nicht, welche Beweise man noch braucht, dass Moskau der Aggressor ist. Diese Offensive wurde mit massiver russischer Hilfe vorangetrieben, mit Freiwilligen und Waffen und möglicherweise auch mit regulären Truppen.

Könnte die Lieferung westlicher Waffen die Widerstandskraft der ukrainischen Armee stärken?

Dr. Hamalij: Als jemand, der im Frieden und in einer Demokratie aufgewachsen ist, tue ich mich schwer, die Kriegstrommel zu schlagen. Aber wenn man bedenkt, dass die Aggressoren über Jahre endlos über Nachschub an Menschen und Material verfügen können, ist klar, dass die Ukraine ohne Hilfe von außen keinen Meter Boden verteidigen kann. Zugleich müssen knallharte Sanktionen verhängt werden. Es kann nicht sein, dass Europa drei Prozent seines Außenhandels über Menschenrechte und Völkerrecht stellt. Wer andere Länder überfällt, neue Grenzen zieht und Freischärler mit Waffen ausrüstet, kann und darf kein honoriger Handelspartner mehr sein. Es ist überfällig, dass im Westen diese Diskussion jetzt beginnt.

Was erwarten die Ukrainer vom Westen?

Dr. Hamalij: Die eine Gruppe ist enttäuscht, dass keine Waffen geliefert werden und lediglich symbolische Sanktiönchen verhängt werden. Die andere Gruppe hofft, dass der Westen den Finger dauerhaft auf der Wunde der gebrochenen territorialen Garantien für die Ukraine hält und wenigstens den Versuch wagt, dieses Unrecht wiedergutzumachen. Die Leidensfähigkeit ist aber angesichts solcher Schockmomente wie in Debalzewo begrenzt.

Fürchten Sie Auflösungserscheinungen und sinkenden Mut angesichts des übermächtigen Gegners?

Dr. Hamalij: Von verweigerter Einziehung oder Desertierungen habe ich noch nichts gehört. Im Gegenteil: Es bleibt Putins sicher nicht beabsichtigter Verdienst, den Ukrainern ein Nationalgefühl eingepflanzt zu haben. Auch das Verhältnis zu Russland hat sich dramatisch geändert. Der angebliche große Bruder und Freund entpuppte sich als gefährlicher Aggressor - und nicht der Westen, wie 70 Jahre lang behauptet worden ist. Die Ukrainer sind zusammengerückt und fühlen sich auf ihrem Weg nach Europa bestätigt.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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