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Landeszeitung Lüneburg: ,,Gerechtigkeit sieht anders aus" -- Interview mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske

Lüneburg (ots)

Die Bundesregierung steht nicht nur wegen des Sparpaktes, das aus Sicht der Kritiker zu einseitig die sozial Schwächeren trifft, am Pranger. ver.di-Chef Frank Bsirske kritisert im Gespräch mit unserer Zeitung auch das Festhalten an der Rente mit 67. Zudem fordert er zur Stärkung des Binnenmarktes höhere Löhne in Deutschland. ,,Wir hinken den anderen Industriestaaten hinterher", sagt der Gewerkschafter. Die erste große Tarifauseinandersetzung steht für Bsirske mit den Bundesländern Anfang 2011 bevor. Konkrete Forderungen nennt der ver.di-Chef noch nicht, aber die Richtung dürfte klar sein.

Herr Bsirske, der Arbeitsmarkt ist in erstaunlich guter Verfassung, das Wirtschaftswachstum war im zweiten Quartal viel höher als erwartet. Wittert nun auch ver.di Morgenluft und wird in den kommenden Tarifrunden wie die IG Metall das Ende der Bescheidenheit einläuten? Frank Bsirske: Ganz sicher ist es notwendig, den Binnenmarkt zu stärken und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Deutschland bei der Lohnentwicklung allen anderen Indus"triestaaten hinterherhinkt. Die konjunkturelle Erholung steht auf nur einem Bein, dem Außenhandel. Wer den Binnenmarkt stärkt, stellt die Konjunktur auf ein zweites Standbein. Das ist umso notwendiger, da es in Europa erhebliche Risiken gibt. Deutschland wickelt 43 Prozent seines Außenhandels in der Eurozone, 60 Prozent in der EU ab, aber nur 7 Prozent in den USA und fünf Prozent in China, allerdings mit steigender Tendenz. Praktisch alle Staaten in Europa setzen zeitgleich auf eine Politik, die die Märkte eher zusammenzieht. Die Konjunkturprogramme laufen aus. In den USA wird zudem ein erneuter Einbruch, ein Double Dip, befürchtet. Diese Risiken machen es notwendig, den Binnenmarkt in den Fokus zu rü"cken und nicht einfach so weiterzumachen wie vor der Krise.

Würgt ein zu hoher Lohnabschluss nicht die Industrie und damit im Endeffekt auch den Binnenmarkt wieder ab? Bsirske: Das Gros des Bruttoinlandsproduktes wird nach wie vor im Binnenmarkt erwirtschaftet. Dem Konsum kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu und damit auch der Lohn"entwicklung. Es gibt also gute Gründe, auf eine Stärkung des Binnenmarktes zu setzen. Wir blicken zudem auf ein Jahrzehnt eines deutschen Sonderweges zurück, der im internationalen Vergleich nicht erfolgreicher war, gemessen an der Beschäftigungsentwicklung, am Beschäftigungsaufbau, an der Lohnentwicklung, am Bruttoinlandsprodukts-Wachstum. Da"raus sollten meiner Meinung nach Konsequenzen gezogen werden. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Außenhandel und Binnenmarkt. Von zentraler Bedeutung hierbei sind die Lohnentwicklung, die staatlichen Investitionen und die Bekämpfung des Armutslohnsektors. Wenn man sich klar macht, dass der gesetzliche Mindestlohn in unseren westeuropäischen Nachbarländern im Schnitt bei 8,41 Euro liegt und in Deutschland rund zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter für Stundenlöhne von fünf Euro oder weniger tätig sind, ist das alarmierend. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf, denn auch die Bekämpfung des Armutslohnsektors ist für den Binnenmarkt wichtig.

Wird der Korridor für die ver.di-Tarifforderungen ähnlich wie bei der IG Metall ausfallen, die sechs Prozent höhere Löhne fordert? Bsirske: Die Diskussion werden wir erst Ende des Jahres führen. Die erste wichtige Tarifrunde wird die im öffentlichen Dienst der Bundesländer Anfang kommenden Jahres sein. Dann folgen weitere Tarifrunden, die mit erheblichem Konfliktpotenzial einhergehen. Bei der Druckindustrie sind die Manteltarifverträge von der Arbeitgeberseite gekündigt worden. Und bei der Post AG laufen Ende nächsten Jahres alle Beschäftigungssicherungsverträge aus. 2011 wird also ein sehr interessantes Jahr.

Wird es bei der alten Vorgehensweise bleiben, prozentuale Lohnerhöhungen für alle Tarifebenen einer Branche zu fordern oder sollen untere Tarifzonen einen Zuschlag erhalten? Bsirske: Das wird vom Verlauf der Diskussionen in den Tarifkommissionen abhängen. Aber wir haben in den vergangenen Jahren in bedeutenden Tarifbereichen beides gemacht: Wir haben prozentuale Forderungen gestellt und Forderungen mit Mindestbeträgen und zum Teil mit Sockelbeträgen beschlossen. Das kam den unteren Lohngruppen zugute. Im Bereich des Öffentlichen Diens"tes ist eine solche Akzentuierung sehr populär bei den Mitgliedern. Aber wir werden sehen, wie sich die Diskussionen entwickeln.

Wären Einmal- oder Bonuszahlungen bei gleichzeitigem moderaten Lohnanstieg nicht der bessere Weg? Bsirkse: Der beste Weg ist, zu nachhaltigen Lohnerhöhungen zu gelangen. Dabei stärkt man die Interessen der Arbeitnehmer und den Binnenmarkt.

Im Mai 2011 wird der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa geöffnet. Ministerin von der Leyen will der Zeitarbeitsbranche eine Art Mindestlohn vorschreiben. Reicht das aus? Bsirske: Frau von der Leyen will diesen Mindestlohn als Vorschrift gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit auf einen Sonderfall begrenzen: Wenn Stammarbeitskräfte ausgegliedert und anschließend über eine Leiharbeitsfirma wieder auf ihre alten Arbeitsplätze zurück verliehen werden. Das ist natürlich ein besonders skandalöser Missbrauchsfall von Leiharbeit. Die grundsätzliche Frage aber bleibt ausgespart: Welche Funktion soll Leiharbeit in der Zukunft eigentlich haben? Soll sie ein Instrument sein, um besondere Belastungsspitzen in Unternehmen flexibler abdecken zu können? Hier würde ich sagen: Das ist okay, wenn die Bedingungen stimmen. Oder soll Leiharbeit ein Instrument systematischer Lohndrückerei sein, was gegenwärtig auf breitester Front der Fall ist? Wir haben derzeit im Bereich ungelernter Arbeitskräfte Lohndifferenzen von bis zu 50 Prozent im Vergleich zu Stammarbeitskräften. Wir erleben hier die Rückkehr der Unsicherheit, der nicht planbaren Lebenssituation, die über Jahrzehnte das Leben vieler Arbeitnehmer prägt. Das kann in einer so reichen Gesellschaft wie unserer nicht mehr hingenommen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass es bei gleicher Arbeit an gleichem Ort zu gleicher Bezahlung kommt. Zudem muss es ein gesetzliches Verbot des Streikbrechereinsatzes von Leiharbeitern geben. Wir haben in der Vergangenheit bei praktisch jedem Arbeitskampf erlebt, wie Unternehmen versucht haben, durch den Einsatz von Leiharbeitern den Arbeitskampf ins Leere laufen zu lassen. Mit dem, was Frau von der Leyen jetzt vorhat, wird sie nicht einmal annähernd der Problematik gerecht.

Wo sollte denn die Höchstüberlassungsgrenze für Leiharbeiter liegen? Bsirske: Vordringlicher als diese Frage wäre für mich die Durchsetzung des Prinzips gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit und ein Synchronisierungsverbot, damit die Beschäftigung als Leiharbeiter nicht automatisch endet mit einem bestimmten Einsatz in einem bestimmten Betrieb. Zudem sollte es eine Begrenzung des Anteils von Leiharbeitskräften an der Gesamtbelegschaft geben. Diejenigen, die über einen längeren Zeitraum als Leiharbeiter im gleichen Betrieb eingesetzt sind, kann man im Prinzip mit der Lupe suchen. Und wenn es tatsächlich Leiharbeiter gibt, die ein oder zwei Jahre in einem Betrieb arbeiten, sind es oft Spezialisten, die höher bezahlt sind als der Rest der Belegschaft. Eine Höchstüberlassungsgrenze ist also nicht das vordringliche Problem. Interessant ist die Situation in Frankreich: Dort gibt es seit Jahren eine gesetzliche Norm: Leiharbeiter müssen einen Lohnaufschlag von zehn Prozent auf den Lohn der Stammarbeitskräfte erhalten, da sie ja unter unsichereren Bedingungen tätig sind. Trotzdem ist der Anteil von Leiharbeitern im Verhältnis zur Stammbelegschaft höher als in Deutschland. Die Grünen fordern einen solchen Prekaritätsaufschlag auch in Deutschland. Ich könnte dem eine ganze Menge abgewinnen.

Von der Leiharbeit zum Personaltausch. Metalltarifpartner in der Region Hannover können künftig Beschäftigte austauschen. Laufen die Geschäfte in einem Unternehmen schlecht und im anderen gut, könnte also Personal ausgeliehen werden. So könnten Kurzarbeit oder Kündigungen vermieden werden. Ist dieses Modell auch für ver.di interessant? Bsirske: Das ist eine sehr intelligente Form von Beschäftigungsführung, die für bestimmte Bereiche durchaus Schule machen darf.

Von der Leiharbeit zur Lebensarbeitszeit: Sie halten die Rente mit 67 für ,,Mist". Ist es nicht ehrlicher, den Arbeitnehmern heute zu sagen, dass kein Weg an einem späteren Renteneintritt vorbeiführt? Bsirske: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Studie veröffentlicht, in der der Frage nachgegangen wurde, welchen Beitragssatz man eigentlich zahlen muss, um eine annähernd Lebensstandard sichernde Rente zu garantieren: 27 bis 28 Prozent, hälftig also 13,5 beziehungsweise 14 Prozent. Derzeit haben wir einen Beitragssatz von 19,8 Prozent, also rund zehn Prozent für den Arbeitnehmer und unter zehn Prozent für die Arbeitgeber. Aus dem alten Bericht der Bundesregierung nach Durchsetzung der Rente mit 67 geht hervor, dass ein Durchschnittsverdiener mindestens 34 Beitragsjahre braucht, um auf eine Altersversorgung auf Hartz-IV-Niveau zu kommen. Wer nur drei Viertel des Durchschnittsverdiens"tes, also 1800 bis 1900 Euro, erhält, braucht 42 Jahre, um eine Rente auf Hartz-IV-Niveau zu bekommen. Das heißt, diese Arbeitnehmer müssten sich zusätzlich absichern, müssten eine Riester-Rente abschließen. Dass können gerade die sich aber nicht leisten. Anders ausgedrückt: Bei derzeit knapp zehn Prozent Rentenbeitragssatz und dann noch knapp vier Prozent für die Riester-Rente kommt man auf genau den Beitragssatz der oben erwähnten Studie für eine annähernd Lebensstandard sichernde Rente mit 65. Die Rente mit 67 bringt eine Beitragssatz-Einsparung von 0,4 Prozent. Aber sie subventioniert im Grunde Gutverdiener, die es sich leisten können, und stürzt viele, die mit geringen Löhnen dastehen, in die Altersarmut. Da die meisten Beschäftigten gar nicht bis zum 67. Lebensjahr arbeiten können -- aus gesundheitlichen Gründen, aber auch, weil es auch in zehn Jahren nicht ausreichend Arbeitsplätze für 65- bis 67-Jährige geben wird -- ist die Rente mit 67 nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm. Der Wirtschaftsweise Prof. Peter Bofinger sagt zum Beispiel, wenn wir in Deutschland nur auf die EU-Durchschnittsbesteuerung großer Erbschaften und Vermögen gehen würden, hätten wir 33 Milliarden Euro pro Jahr mehr. Bei der Unternehmensbesteuerung sind wir ein Niedrigsteuerland. Und es ist auch nicht gottgegeben, dass der einzige Bereich, der komplett von der Mehrwertsteuer ausgenommen ist, der Handel mit Aktien ist. In London werden jährlich sieben bis acht Milliarden Pfund aus der Besteuerung des Börsenumsatzes erlöst, hier hingegen kein Cent. Gerechtigkeit sieht anders aus. Das Interview führte Werner Kolbe

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