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Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: ,,Nationalromantik heizt Konflikt an" 60 Jahre nach der Gründung Israels droht religiöser Fundamentalismus als neue Gefahr, sagt der Historiker Moshe Zimmermann im Interview mit der Landeszeitung.

Lüneburg (ots)

Ausgelassen feiert Israel den 60. Jahrestag
seiner Gründung. Doch schwere Hypotheken belasten die 
Feierlichkeiten: Die soziale Kluft im Lande wächst trotz 
Wirtschaftsboom. Skandale von Politikern untergraben das Ansehen des 
Staates, Frieden bleibt ein Traum. Der Jerusalemer Historiker Moshe 
Zimmermann zieht eine Bilanz nach 60 Jahren Israel und wagt einen 
Ausblick. Er warnt: Der Trend zu religiösem Fundamentalismus in und 
außerhalb Israels mindert die Chancen auf Versöhnung.
Eine Mehrheit der Deutschen erkennt keine besondere Verantwortung 
für Israel an. Schockiert Sie diese Umfrage? Prof. Moshe Zimmermann: 
Nein, das schockiert mich keineswegs. Wenn 53 Prozent der Bürger eine
besondere Verantwortung gegenüber Israel verneinen, heißt das nicht, 
dass sie die Bekämpfung von Antisemitismus ablehnen. Eine derartige 
Umfrage ist sehr stark tagespolitisch geprägt -- und da Israels 
Politik in den besetzten Gebieten keinen guten Ruf hat, kann einen 
ein solches Ergebnis nicht erstaunen. Die Regierung, das offizielle 
Deutschland, benutzt die Formel von der "besonderen Verantwortung" 
als Parole. Aber für die einfachen Bürger sind das nur Floskeln. 
Ihnen scheint diese Formel gleichbedeutend zu sein mit einer 
Benachteiligung der Palästinenser. Würde gefragt werden, ob es eine 
besondere Verantwortung gegenüber Juden hinsichtlich des Kampfes 
gegen Rassismus geben, käme es nicht zu 53 Prozent Ablehnung.
In 60 Jahren hat Israel die Wüste erblühen lassen und Juden 
unterschiedlichster Herkunft integriert. Ist Israel eine 
Erfolgsgeschichte? Prof. Zimmermann: Was Integration anbelangt, kann 
man dies in der Tat als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Hier wurden 
Gruppen von Juden mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, die kaum 
Kontakt zueinander hatten, zu einer Gesellschaft mit einem 
gemeinsamen Nenner geformt. Von diesem Erfolg könnten auch andere 
Einwanderungsländer lernen, zum Beispiel in Europa. Aber andere 
Aspekte stellen das Prädikat "Erfolgsgeschichte" in Frage: Eine 
Gesellschaft, die es in 60 Jahren nicht schafft, Konflikte mit der 
Umgebung -- vor allem den Palästinensern -- zu beenden, kann man 
nicht als erfolgreich bezeichnen.
Immer wieder musste Israel um seine Existenz kämpfen. Doch auch nach 
60 Jahren will Teheran Israel von der Landkarte radieren. Wann darf 
Israel in Frieden leben? Prof. Zimmermann: Das ist eine Frage für 
Propheten. Die Tatsache, dass man nicht in Frieden leben kann, hat 
viel damit zu tun, dass sowohl die israelische als auch die 
arabisch-palästinensischen Gesellschaften nationalistisch orientiert 
sind. Beide Seiten halten die Nation für die Krönung des kollektiven 
Bewusstseins -- wie die Europäer im 19./20. Jahrhundert. Von daher 
sind Konflikte wahrscheinlicher als Versöhnung. Erst wenn man von der
Kombination eines extremen Nationalismus mit religiösem Eifertum 
abrückt, gibt es eine Chance für den Frieden. Zudem muss man noch 
hoffen, dass auch im Iran ein Wandel eintritt. Iran, der seine 
Feindschaft zu Israel aus religiösen Motiven nach 1979 erfunden hat.
Frieden mit den Palästinensern würde auch Israels Akzeptanz bei 
seinen arabischen Nachbarn stärken. Woran krankt der Friedensprozess?
Prof. Zimmermann: Unser Annus mirabilis war das Jahr 1967 mit dem 
Sechstagekrieg. Danach entwickelte sich in Israel eine 
nationalromantische, religiös gefärbte Stimmung. Auf der Gegenseite 
war es ähnlich. Diese Parallelentwicklung sorgt dafür, dass der 
Konflikt weitergeführt wird statt ihn zu beenden. Weil Israel die 
romantische Vorstellung des Heiligen Landes in politische Realität 
verwandelt, indem es Siedlungen baut, verschärft es die Spannungen.
Wurde in dem "Wunderjahr" 1967 auch das Kibbuz-Ideal der Gleichheit, 
dem die Gründergeneration anhing, beschädigt, als Israel Territorium 
besetzte -- und plötzlich billige palästinensische Arbeitskräfte zur 
Verfügung standen? Prof. Zimmermann: Das hat weniger mit den billigen
Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten zu tun als viel mehr mit 
einer neoliberalen Verwandlung des Wohlfahrtsstaates, wie sie sich 
auch in Europa vollzog. Die Kibbuzim wurden vernichtet unter der 
Regierung Begin -- also einem klar nationalistischen und 
kapitalistischen Kabinett -- ab 1977. Damals wurde der Traum von 
einer gerechten und egalitären Gesellschaft aufgegeben. Seitdem haben
die Kibbuzim und die sozialdemokratische Idee keine Chance mehr in 
Israel gehabt.
Ist Israel bereit, sich von der Idee eines "Groß-Israel" zu 
verabschieden? Prof. Zimmermann: Die Mehrheit in Israel ist bereit, 
das zeigen Umfragen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. 
Nicht aus allen, denn die wirklich großen Siedlungen zu räumen, ist 
für die meisten Israelis undenkbar. Aber 90 Prozent der besetzten 
Gebiete würden die meisten Israelis für den Preis des Friedens 
aufgeben.
Hat der allgegenwärtige Terror die israelische Gesellschaft 
verändert? Prof. Zimmermann: Der Terror hat das Land vor allem in den
Jahren zwischen dem Oslo-Abkommen 1994 und der zweiten Intifada 
2004/05 sehr verunsichert. Es bildete sich eine Art Abwehrmechanismus
heraus, der eine Absage an eine humanitäre Behandlung der 
Palästinenser einschloss. Man war so weit terrorisiert, dass man das 
ganze palästinensische Volk als Terroristen definierte.
Bedroht Terror die Fähigkeit der Gesellschaft, demokratisch zu 
bleiben? Prof. Zimmermann: Israel ist in dieser Beziehung ein 
Mikrokosmos der Welt. In dem Moment, in dem man terrorisiert wird, 
ist die Reaktion radikal. Das erlebten wir in den USA nach dem 11. 
September, aber auch in Großbritannien, Spanien und Deutschland. 
Unter Terrorangst sind die Menschen bereit, auf demokratische Werte 
zu verzichten. In Israel hat die Demokratie nach zehn Jahren 
intensiven Terrors zwar nicht aufgegeben, aber eingebüßt.
Kann die EU bei der Lösung des israelisch-palästinensischen 
Konfliktes helfen? Prof. Zimmermann: Die EU muss mehr unternehmen als
bisher. Ihre beiden Standardargumente zur Begründung ihrer 
Zurückhaltung ziehen nicht mehr: Zum einen hieß es: Die USA würden es
richten. Das funktioniert im Moment nicht, weil die USA schwächer 
geworden sind. Versucht Washington, eine neue Ordnung zu schaffen, 
sorgt es nur für mehr Unordnung. Zum zweiten vertrat die EU die 
Ansicht, die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands mache 
ein intensiveres Engagement in Nahost unmöglich. Doch kaum ein 
Israeli identifiziert das heutige Europa mit dem der ersten Hälfte 
des 20. Jahrhunderts. Deshalb kann Europa mehr wagen in der Region.
Beinhaltet das auch europäische Friedenstruppen, die als Puffer 
zwischen den Gegnern fungieren könnten? Prof. Zimmermann: Die Idee 
von Friedenstruppen ist von Israel längst akzeptiert worden. Auf den 
Golanhöhen sind Österreicher stationiert und entlang der Küsten 
patrouillieren Schiffe der deutschen Marine. Aber für die Lösung des 
Konfliktes mit den Palästinensern sind Friedenstruppen völlig 
inadäquat. Die besetzten Gebiete sind klein und es fehlt wegen der 
vielen Siedlungen an klaren Grenzen. Deshalb machen hier 
Friedenstruppen keinen Sinn. Wertvoll wäre eine europäische 
Initiative für Verhandlungen über einen Abzug aus den besetzten 
Gebieten.
Behindert der wichtigste israelische Verbündete, die USA, sogar eine 
umfassende Friedenslösung, indem es Syrien zum Paria stempelt? Prof. 
Zimmermann: Eindeutig ja. Diese Haltung der USA gegenüber Syrien 
hemmt Israels Politik. Es gibt in Israel sowohl auf dem linken wie 
auf dem rechten Flügel genug Politiker, die bereit wären, für einen 
Frieden mit Syrien auf die Golanhöhen zu verzichten. Indem die für 
die Gestaltung einer eigenen Ordnung zu schwachen USA dies 
blockieren, torpedieren sie den Friedensprozess in Nahost.
Halten Sie es für realistisch, dass es wirklich Geheimverhandlungen 
zwischen Israel und Syrien gibt, wie syrische Oppositionelle 
behaupteten? Prof. Zimmermann: Ja, das wurde hier eingeräumt, wenn 
auch keine Details genannt wurden. Ich vermute, dass nicht nur die 
Türkei, sondern auch Deutschland Vermittlungs"dienste leistet. 
Europäer versuchen, diese Hürde zu beseitigen, warten aber geduldig 
auf den neuen US-Präsidenten.
Niemand eignet sich so gut zum Propheten wie ein Historiker: Wie 
sieht Israel in zehn Jahren aus? Prof. Zimmermann: Israel 2008 setzt 
verstärkt auf Hightech, deshalb wird Israel 2018 ein technologisch 
sehr stark entwickeltes Land sein. Israel wird einen Weg gefunden 
haben, mit den Nachbarn einigermaßen in Frieden zu leben. Das Problem
werden nicht mehr die Palästinenser oder die arabischen Staaten sein,
sondern die stärker werdende fundamentalistische Religiosität auf 
jüdischer wie arabischer Seite. Nur wenn das Pendel zurückschlägt 
zuguns"ten der Betonung des individuellen Wohlstandes auf der Welt, 
hat der Frieden eine echte Chance. Das Interview führte Joachim 
Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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