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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum Auschwitz-Gedenken: Von wegen Schlussstrich von Sebastian Heinrich

Regensburg (ots)

Die meisten Deutschen wünschen sich einen Schlussstrich unter die Schoah, den Völkermord an Europas Juden: 58 Prozent möchten das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung definitiv schließen. Es sind keine neuen Zahlen: 1991 hatten sich sogar 60 Prozent einen Schlussstrich gewünscht. Und glücklicherweise meinen heute auch mehr Menschen als 1991, dass die Massenvernichtung durch die Nazis immer noch relevant ist. Trotzdem ist es ein Alarmsignal, dass so viele nichts mehr hören wollen von den etwa sechs Millionen Juden, die im Namen Deutschlands ermordet wurden. Und der Wunsch, es müsse jetzt einmal gut sein mit der Erinnerung daran, darf nicht erfüllt werden. Im Gegenteil. Die Deutschen müssen noch öfter und intensiver darüber reden, was die Schoah war - und was sie bis heute bedeutet. Denn allzu viele Menschen hierzulande wissen das offenbar nicht. Wir müssen weiter über die Schoah reden, weil Antisemitismus noch immer in Deutschland grassiert. Fast jeder fünfte Deutsche glaubt laut einer Studie der Uni Bielefeld heute, die Juden seien mit ihrem Verhalten mitschuldig an ihrer Verfolgung. Im Sommer 2014 hallten bei Protesten gegen israelische Angriffe auf den Gaza-Streifen antisemitische Parolen durch Deutschlands Straßen - und immer wieder wird Menschen wegen ihres jüdischen Glaubens Gewalt angetan. Dass Juden 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz angstfrei in Deutschland leben können, müsste eigentlich selbstverständlich sein. Doch das ist es nicht. Wir müssen weiter über die Schoah reden, weil heute im Namen von Pegida und seinen Ablegern zehntausende Menschen auf die Straße gehen, die "das Abendland" gegen vermeintliche Eindringlinge verteidigen wollen. Menschen, die arrogant urteilen über Menschen aus anderen Ländern. Sie sprechen ihnen die Fähigkeit ab, in einer modernen, demokratischen Gesellschaft zu leben - grölen aber selbst Nazi-Vokabular wie "Lügenpresse" und "Volksverräter". Und offenbar ist diesen Menschen nicht bewusst, dass vor nur zwei Generationen den Deutschen selbst kaum ein anderes Volk zugetraut hätte, eine moderne, demokratische Gesellschaft aufzubauen. Dass es trotzdem geklappt hat, haben wir den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs zu verdanken - vor allem den USA, die viel Geld und Ressourcen in die Demokratisierung Deutschlands gesteckt haben. Daran sollten gerade jene denken, die neuerdings bei "Pegada"-Demos gegen die "Amerikanisierung des Abendlands" auf die Straße gehen. Wer nicht mehr reden will über die Schoah, sagt oft, dass junge Deutsche von heute nichts mehr zu tun haben mit dem Unrecht, das ihre Urgroßväter angerichtet haben. Doch das ist falsch. Persönlich verantwortlich ist natürlich niemand mehr - das gilt ohnehin für alle, die nach 1935 geboren sind. Aber mit nationalsozialistischen Gräuel wird jeder Deutsche immer wieder konfrontiert, wenn aus Protest gegen deutsche Politik die Bundeskanzlerin mit Hitler-Bart gezeigt wird. Und je unvernünftiger andere mit der deutschen Geschichte umgehen, desto vernünftiger müssen wir es tun. Das heißt nicht, dass man als Deutscher solche Nazi-Vergleiche akzeptieren muss - oder sich aufgrund der deutschen Geschichte zu bestimmten Themen den Mund verbieten lassen darf. Doch die Verbrechen im Namen Deutschlands bringen eine große Verantwortung mit sich. Und der muss sich jeder von uns stellen. "Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz", hat Bundespräsident Joachim Gauck im Bundestag gesagt. Er hat Recht.

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