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Der Tagesspiegel

Der Tagesspiegel: Die Grauen machen weiter Bundesverband löst sich wegen Millionenschulden auf, doch in Berlin wird eine Nachfolgepartei gegründet

Berlin (ots)

Bei etablierten Parteien würde ein Wahlspruch wie
"Poppen für 'ne sichere Rente?" glatt durchfallen. Den Berliner 
Grauen aber hat dieser Slogan, rot gedruckt auf 6000 Plakate, erst 
Aufsehen und dann den größten Erfolg ihrer Parteigeschichte gebracht:
3,8 Prozent gewannen sie 2006 bei der Abgeordnetenhauswahl und zogen 
in acht Bezirksverordnetenversammlungen ein. "Das war der 
Oberhammer", sagt der Landes- und Reinickendorfer Kreischef Norbert 
Raeder. Ein ganz anderer Hammer kommt heute auf den 39-Jährigen zu: 
die Auflösung der Bundespartei wegen Zahlungsunfähigkeit und 
Ermittlungen gegen frühere Vorstandsmitglieder wegen Spendenbetrugs. 
8,5 Millionen fordert der Bundestag zurück. Raeder, der Ende Januar 
nach nur vier Monaten Amtszeit als Bundesvorsitzender zurückgetreten 
war und nichts mit den Ermittlungen zu tun hat, will sich seinen 
Erfolg nicht kaputtmachen lassen: "Wir machen hier weiter und werden 
uns umbenennen", sagt er. Die neue Partei soll "Die Grauen - 
Generationenpartei" heißen. Mit dem geschützten Titel "Graue Panther"
aber wird Schluss sein.
Vor 14 Jahren kam Raeder, aufgewachsen in einem SPD-Elternhaus in 
Wedding, zu den Grauen. Aus einer Gruppe von acht Mann machte der 
gelernte Pharmakant einen 500 bis 800 Mitglieder starken 
Landesverband. "Eher 500 als 800", sagt er. Das Durchschnittsalter 
liegt bei 40 Jahren. Jeder Kreisverband fasst seine eigenen 
Beschlüsse. "Wir reden nicht, sondern tun was. Ich bin der direkte 
Typ und habe keine Lust auf Selbstdarstellungsgequatsche", sagt er. 
Worin Raeder den Erfolg der Berliner Grauen sieht? "Wir sind ehrlich.
100 Prozent." Einem Typen mit Mut zur Vokuhila-Frisur, vorne kurz, 
hinten lang, nimmt man das ab.
"Es sind immer die Kleinen, denen man auf die Nase haut." Da denkt 
der Wirt der Reinickendorfer Musikkneipe "Kastanienwäldchen" in 
erster Linie an die vielen Kneipiers in Berlin und an das 
Rauchverbot. Deshalb hat er schon mehrere Demos in Spandau, Mitte und
Schöneberg organisiert, und eine richtig große Demo vor dem Roten 
Rathaus ist bereits in Planung. "Rauchverbot ist für unsere Wirte der
Tod", stand auf einem der Demo-Plakate.
Landespolitik ist für die Grauen noch weit weg. Damit befasst sich 
der Landesverband kaum. "Zum Glück hatten wir bei den Wahlen nicht 
den Sprung ins Abgeordnetenhaus gemacht. Das hätten wir nicht 
geschafft", sagt Raeder. Wer von "Null auf 100" neu startet, müsse 
das erst lernen, die Politik, die Strukturen - und die richtige 
Formulierung.
Eine der ersten Fragen von Raeder in der BVV betraf den 
Neujahrsempfang der CDU-Bezirksbürgermeisterin Marlies Wanjura. Wer 
habe den gezahlt? Die Frage war unglücklich formuliert, wurde als 
Korruptionsvorwurf verstanden. Erst später wurde der tatsächlich 
merkwürdige Umgang Wanjuras mit Spenden und Sponsorengeldern bekannt,
den jetzt Rechnungshof und Staatsanwaltschaft prüfen. Dass kommende 
Woche die SPD eine Sonder-BVV dazu einberufen hat, halten die Grauen 
aber für sinnlos. "Das wird eine Schlammschlacht. Wir sollten das 
Ergebnis der Prüfung abwarten", sagt Grauen-Fraktionschef Michael 
Schulz.
Die Zusammenarbeit mit den anderen Fraktionen sei nicht schlecht. 
"Persönlich sind sie nett. Wir haben einen lockeren Umgang", sagt 
SPD-Fraktionschef Sascha Braun. Aber ein Thema, mit dem sich die 
Grauen profiliert hätten, fällt ihm nicht ein. "In der Sache sind sie
unscheinbar bis nicht vorhanden, politisch eher dünn." André Meral, 
BVV-Mitglied der Grünen in Tempelhof-Schöneberg, sagt: "Man weiß 
nicht, was sie wollen. Es ist Glückssache, wie sie reagieren. Sie 
melden sich kaum, sind teils konfus und heterogen." Der Schöneberger 
SPD-Fraktionschefin Elke Ahlhoff fehlt eine "Programmatik. Sie sind 
sehr kleinteilig und wenig wahrnehmbar." Dass die politische Linie 
fehlt, hört man auch aus der Pankower SPD.
Eine klare Antwort auf die Frage, wo die Grauen politisch stehen, hat
Landeschef Raeder auch nicht. Man wolle "frei bleiben" und "direkte 
Politik" machen: sich für Tempo 30 in kleinen Straßen einsetzen, 
Jugendliche im Park ansprechen, dass sie die Bänke nicht schmutzig 
machen, Missstände in Altenheimen anprangern, Zeichen setzen gegen 
Unterrichtsausfall, kurz: generationenübergreifende Themen anpacken. 
So fordern die Grauen sowohl eine "Heimpolizei", die unangemeldet 
Altenheime kontrolliert, als auch kostenloses Schulessen. Die Grauen 
wollen Tempelhof offenhalten, "nicht, weil wir Wowereit nicht mögen",
sagt Raeder, "aber der Flughafen ist Tradition."
Es ist eine Mischung aus Ernsthaftigkeit, Basisdemokratie und einem 
Schuss Naivität, mit der die Grauen sich im politischen Leben 
bewegen. Ob sie überleben werden, ist für Norbert Raeder nicht die 
Frage. Er frotzelt: "Allein durch unsere Anwesenheit haben wir ein 
Umdenken bewirkt. Dafür müsste man schon das Bundesverdienstkreuz 
bekommen."
klaus kurpjuweit
Der Tagesspiegel
Berlin-Redaktion
Tel.: 030/26009 337
Fax: 030/26009 415

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